Weine ruhig
gesehen haben, dass wir Juden waren, doch glücklicherweise hielt uns niemand auf. Sie gingen alle ihren Geschäften nach oder taten so, als sähen sie uns nicht. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein junger Mann in Polizeiuniform auf einem Fahrrad vor uns auf. Er stieg direkt vor uns ab. Unsere Herzen hämmerten wie wild: Wir waren verloren! Doch zu unserer Überraschung lächelte der junge Mann uns an und sagte: »Kinder, rennt, rennt, flieht, habt keine Angst.« Dann stieg er auf sein Rad und fuhr weiter. Seine Worte machten uns Mut, und wir rannten noch schneller. Ich erinnere mich immer noch genau an seine herzerwärmenden und aufbauenden Worte, und ich glaube, dass diese Begegnung ein Zeichen des Himmels war.
Am Stadtrand angekommen, standen wir vor einem großen Kornfeld. Die Ähren leuchteten rotgolden in der untergehenden Sonne, und die Halme raschelten in der sanften Brise. Ich betrachtete diese pastorale Szenerie und dachte, dass unsere Situation so gar nicht dazu passte und vielleicht sogar absurd war: Alles war ruhig und friedlich, und nur wir waren aufgeregt und in Eile, rannten durch das Feld. Das Getreide war hoch und dicht, so dass wir uns gut darin verstecken konnten. Die Ähren trugen saftige reife Körner, und morgen oder übermorgen würde man mit der Ernte beginnen. Wir strichen mit den Händen über die Ähren, pflückten einige und aßen die Körner. Sie schmeckten gut, und wir aßen, bis wir satt waren. Vater drängte uns, tiefer in das Feld hineinzugehen; hier wollten wir auf die Dunkelheit warten, und dann würden wir in den Wald gehen.
Plötzlich hörten wir entfernte Rufe, die lauter wurden, als sie näher kamen. Als wir durch die Halme spähten, sahen wir Polizisten.
»Alle Juden, die sich im Kornfeld verstecken, sofort rauskommen!«, schrie jemand. Dann Stille. Niemand gehorchte. Plötzlich wurde geschossen. Wir erstarrten. Dann hörten wir ein Rascheln, das Geräusch von Füßen, die Halme niedertraten, angstvolles Flüstern. Schemenhafte Gestalten durchfurchten links und rechts von uns das Getreide, bewegten sich in Richtung Feldrand. Wir hörten, wie die Menschen im Flüsterton miteinander diskutierten. Manche dachten offenbar, dass es besser wäre, sich der Polizei zu ergeben, in der Hoffnung, nicht getötet zu werden, selbst wenn das bedeutete, in ein Arbeitslager gebracht zu werden, als hier im Getreidefeld erschossen zu werden.
Wir waren ebenfalls drauf und dran, uns zu ergeben, weil wir Angst hatten, erschossen zu werden, aber dann schüttelte Vater entschlossen den Kopf und bedeutete uns, still zu sein und uns nicht zu bewegen. Wir spähten durch die Halme und sahen mehrere Juden, die ebenfalls stillhielten und abwarteten, was passieren würde. Einen Moment lang war alles ruhig. Verzweiflung befiel mich. Wir saßen in der Falle und waren verloren.
Plötzlich wurde die Stille wieder durch laute Warnschreie und Gewehrsalven unterbrochen. Weitere Menschen ergaben sich und wurden nach einer Weile von ihren Häschern abgeführt. Ich kniff die Augen zu, weil ich es nicht sehen wollte. Mir war klar, dass jeder, der sich aus dem Kornfeld wagte, auf der Stelle erschossen werden würde. Ich war ungeheuer erleichtert, als die Polizisten endlich abzogen. Wir kauerten uns weiter im Feld zusammen, schweigend und zitternd, zum Teil aus Furcht, zum Teil vor Kälte. Miriam weinte, aber Vater hatte seine Hand auf ihren Mund gelegt, damit sie uns nicht verriet. Als die Stimmen in der Ferne verklangen und wieder Stille herrschte, sagte Vater, dass wir sofort in den Wald gehen müssten, noch vor Einbruch der Nacht, weil wir sonst nicht sähen, wo wir hintreten würden.
Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit jenem schicksalhaften Herbsttag vergangen, an dem wir alle wie durch ein Wunder entkamen, und ich kann immer noch nicht begreifen, was damals geschah. Wieso hat Vater sich mit uns in dieses gefährliche Abenteuer gestürzt? War er ein Held? Oder war er so unbedarft, dass er sich der Gefahren nicht bewusst war? Vielleicht folgte er seinem Instinkt, wie ein gejagtes Tier, das um sein Leben rennt. Schließlich hatte unsere Flucht kein bestimmtes Ziel, und die meiste Zeit wussten wir nicht, wo wir waren, da wir die Gegend nicht kannten. Wir besaßen fast nichts von dem, was wir zum Überleben brauchten, und doch führte dieser Mann seine Frau und seine drei Töchter nach »Nirgendwo«. Wie sah sein Plan aus?
Wahrscheinlich hatte er gar keinen Plan, sondern lief einfach weiter, wie in
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