Weine ruhig
Einer der Gardisten, der jüngste der drei, stand neben mir, und ich glaubte etwas wie Verlegenheit in seinen Augen zu lesen, als ob er sich schämte für das, was sie uns antaten. Ich nahm all meinen Mut zusammen und flüsterte ihm zu: »Was haben wir dir getan, dass du so gemein zu uns bist? Sind wir nicht alle Menschen, die nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, so wie du?«
Er murmelte etwas, und ich glaubte zu verstehen: »Ich führe nur die Befehle aus. Das ist mein Beruf.«
Die Fahrt dauerte länger als eine Stunde. Schließlich erreichten wir Nitra. Von dort waren wir vor mehr als drei Monaten geflohen, obwohl es viel länger her zu sein schien, da wir seitdem so viel erlebt hatten. Wir hatten so viele Feuerproben bestanden, Tage voller Angst und Leid durchlebt, mit nur seltenen Momenten der Hoffnung und der Freude. War unser verzweifelter Versuch zu überleben endgültig gescheitert? Ich hatte keine Ahnung, wohin man uns brachte und was man mit uns vorhatte. Noch während wir im Bus waren, flüsterte Mutter mir zu, ich solle den jungen Gardisten um Erlaubnis bitten, in unsere Wohnung zu gehen und warme Kleidung zu holen. Ich nahm all meinen Mut zusammen, formulierte meine Bitte und war erstaunt, eine positive Antwort zu bekommen. Der Gardist willigte ein, uns in unsere Wohnung gehen zu lassen.
Als wir aus dem Bus stiegen, peitschte uns wieder der kalte Wind ins Gesicht. Wir machten uns auf den Weg zum Gefängnis und kamen an dem Haus vorbei, in dem wir bis zu unserer Flucht gewohnt hatten. Die Polizisten entfernten das Wachssiegel, öffneten das Schloss und sagten, dass Vater und ich mit einem von ihnen hineingehen dürften, um ein paar Kleidungsstücke zu holen. Als ich eintrat, hatte ich wieder das Gefühl des Erstickens, das ich schon kannte, und ich fühlte mich unendlich schwach - ich wurde fast ohnmächtig unter dem Ansturm der Gefühle. In dieser Wohnung hatte ich einmal gewohnt! Vater raffte schnell die Mäntel zusammen und eine Daunendecke und schnürte aus ein paar Sachen kleine Bündel. Draußen zogen wir uns warm an und gingen weiter zum Gefängnis, jeder von uns mit einem kleinen Bündel in der Hand.
Wir gingen mit gesenkten Köpfen durch die Straßen, die wir so gut kannten, und kamen bald zu einem hohen Gebäude. In einem Stockwerk war ein Kino, in den anderen befanden sich Verwaltungsbüros der Regierungsbehörde und der Deutschen sowie der Hlinka-Garde. Es gab ein weitläufiges Kellergeschoss, in dem sich die großen Öfen der Zentralheizung des Hauses befanden, sowie einige kleinere Räume, in denen die Kohle gelagert wurde. Im selben Geschoss hatte man auch ein Gefängnis eingerichtet, in dem die Juden der Region bis zu ihrer Deportation in die Konzentrationslager eingekerkert wurden.
Mitte Dezember 1944, nur wenige Monate vor Kriegsende, lebten nur noch wenige Juden in der Slowakei, so dass die Transporte selten geworden waren. Doch die Gardisten sagten, dass erst am Vortag ein Transport nach Polen abgegangen sei. Als wir in den Keller hinuntergebracht wurden, der nun unser neues »Zuhause« sein sollte, trafen wir daher nur einen einzigen Menschen an, einen jungen Juden namens Josef. Es tat ihm leid, dass sie uns geschnappt hatten, und er befürchtete, dass sie uns nach Polen schicken würden, wenn sie noch mehr Juden fänden.
Nachdem die Gardisten gegangen und wir allein waren, sagte Vater plötzlich auf Jiddisch: »Geloibt zin Got, men hüben ein dach ofen kopf.«
Dieser Satz machte mich fertig. Natürlich waren wir hier vor der Kälte geschützt, und wir waren nicht mehr auf der Flucht - doch Vaters Ausspruch war absurd angesichts dessen, was uns möglicherweise drohte. Als wäre Vater dankbar und wollte Gott dafür preisen, dass wir gefangen genommen und eingesperrt worden waren. Ich fragte mich: Was ist denn mit Vater los, der stets nach Lösungen und Auswegen suchte? Hat er jegliche Hoffnung aufgegeben? Ist er bereit, sich dem Schicksal zu fügen? Vaters Ausspruch hat sich in unser kollektives Familiengedächtnis eingegraben, wir zitierten ihn bei allen passenden Gelegenheiten, zum Beispiel, wenn wir mit Leuten zusammen waren, die etwas schönredeten. Aber gleichzeitig, und das ist das Merkwürdige daran, machten wir uns diesen Spruch allen Ernstes zu eigen - vielleicht war es der Versuch, etwas Gutes an jeder noch so schrecklichen Situation zu finden.
Josef berichtete, dass er schon seit ein paar Monaten inhaftiert sei, wegen seines Berufs. Er war Schuhmacher und hatte sich
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