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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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Gesten, so schnell wie möglich in unser Versteck zu gehen. Gardisten würden das Dorf nach Flüchtlingen absuchen, sagte er, und er habe Angst, dass sie auch zu ihm kämen.
    Wir rannten in die Scheune, räumten das Stroh und die Bretter beiseite, stiegen in das Loch und setzten uns auf die Bank, genauso wie wir es geübt hatten. Jozef deckte den Eingang schnell wieder zu und postierte die Kuh darauf. Nachdem wir etwa zehn Minuten lang in angespannter Stille dasaßen, geschah etwas äußerst Unangenehmes. Die Kuh erleichterte sich, und ihr Urin troff durch die Ritzen und besprühte uns. Wenn wir nicht solche Angst gehabt hätten, wären wir in Gelächter ausgebrochen - oder in Tränen. Wir versuchten, die Köpfe abzuwenden. Wann würde endlich das Zeichen kommen, dass die Luft rein war?
    Plötzlich hörten wir Geschrei und trampelnde Schritte. Jemand befahl Jozef, das Scheunentor zu öffnen. Die Tür ging auf, und Schritte näherten sich. Der Boden wurde abgeklopft. Jozef musste die Kuh zur Seite führen, und das Klopfen ging weiter, bis ein hohler Ton zu hören war. Dann befahl man Jozef, das Stroh zu entfernen, und die Bretter, die verrieten, dass darunter ein Hohlraum war, kamen zum Vorschein.
    Wir waren wie hypnotisiert. Nach und nach fiel Licht in unser dunkles Loch. Wir zitterten vor Angst und Hilflosigkeit. Ronny hielt meine Hand und flüsterte: »Du wirst sehen, wir kommen hier wieder raus. Gott wird nicht zulassen, dass eine Liebe wie die unsere zu Ende ist.«
    Diese Worte drangen in mich ein und erfüllten mein Herz.
    Ich wurde von einer seltsamen Ruhe ergriffen, die so gar nicht zur Situation passte. Noch heute sehe ich mich dort sitzen, mit Ronnys Hand in meiner, und höre seine Worte -Worte, die einen so nachhaltigen Eindruck auf mich machten!
    Nachdem die Bretter entfernt worden waren, mussten wir aus der Grube steigen. Vater kletterte vor mir hoch und half mir hinauf. Drei junge Männer in Gardistenuniform lachten bei unserem Anblick laut los: »Seht euch diese elenden Gestalten an. Voller Kuhpisse!«
    Mutter nahm all ihren Mut zusammen und sagte auf Deutsch: »Ich bin Christin. Wir sind vor den Bomben geflohen.«
    Aber der Mann schrie sie an: »Stinkende Jüdin! Du wagst es, uns anzulügen!«
    Er hob die Hand und schlug Mutter mit voller Wucht ins Gesicht. Dann grapschte er nach ihrem Ohr und riss ihr den Ohrring ab. Das Blut schoss aus dem Ohrläppchen. Mutter brach zusammen und schrie, und wir Mädchen weinten. Vater stand blass und versteinert daneben. Der Mann, der Mutter geschlagen hatte, schrie uns an, wir sollten sofort aufhören zu weinen, sonst würde er auch uns schlagen.
    Ich dachte, dass nun auch Jozef bestraft werden würde, weil er uns geholfen hatte. Aber zu meiner Überraschung flüsterte einer der Gardisten ihm etwas ins Ohr und klopfte ihm auf die Schulter. Plötzlich wurde mir klar: Der Mann hatte uns verraten! Ich war verzweifelt. Als sich herausgestellt hatte, dass wir ihm kein Geld mehr geben konnten, war er zur Polizei gegangen und hatte uns denunziert. Die Gardisten trieben uns zur Eile an. Wir halfen Mutter auf. Sie blutete und weinte leise. Einer der Gardisten sagte, dass der Bus bald kommen würde, und wir sollten sofort mitkommen.
    Sie ließen uns nicht einmal unsere Kleider mitnehmen, die auf der Leine hingen und noch nicht ganz trocken waren. Jetzt begriff ich, dass die Waschaktion Teil des Plans war. Man wollte uns nicht nur loswerden, sondern zuvor noch ausrauben. Als Miriam nach ihrer Puppe fragte, war sie verschwunden. (Nach der Befreiung sind wir in das Dorf zurückgekehrt, um die Puppe zu holen, an der Miriam so sehr hing. Wir fanden sie. Sie hatte keine Beine mehr, und Jozefs kleiner Sohn hatte ihr den Kopf eingedrückt. Trotzdem bestand Miriam da-
    rauf, die Puppe mitzunehmen. Sie befindet sich heute im Museum von Yad Vashem.)
    Mit gesenkten Köpfen marschierten wir zur Bushaltestelle mitten im Dorf. Die Leute beobachteten uns durch die Fenster und durchbohrten uns mit ihren Blicken. Der Bus war brechend voll. Die Polizisten stiegen mit uns ein, und wir mussten stehen. Einer der Fahrgäste wollte Mutter, die immer wieder ein Taschentuch an ihr blutendes Ohrläppchen presste, seinen Platz anbieten. Aber der Gardist, der ihr die Verletzung zugefügt hatte, sagte: »Kümmere dich nicht um sie. Das sind nur Juden. Es besteht keine Veranlassung, ihnen einen Platz anzubieten.«
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    Den Leuten war das offensichtlich unangenehm, sie wandten sich ab und sagten nichts.

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