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Weinen in der Dunkelheit

Weinen in der Dunkelheit

Titel: Weinen in der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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oder auf der Flucht verloren hatten, also wirkliche Waisen, und außerdem Flüchtlingskinder vom Volksaufstand 1953. Danach füllten sich die Gruppen mit Kindern, deren Eltern in den Westen gegangen waren und sie einfach zurückgelassen hatten. In meiner Gruppe und der gesamten Klasse kannte kaum ein Kind seine Eltern.
    Tina, die Neue, die nachts weinte, war sehr nett. Erst wollte sie ohne ihre Eltern nicht mehr leben, das machte mich sehr traurig. So schlimm fand ich es im Heim gar nicht. Oft saßen wir zusammen und redeten miteinander über ihre Familie. Dabei sah sie so glücklich und traurig zugleich aus, sie liebte ihre Eltern sehr. Aber ob es sich umgekehrt genauso verhielt, bezweifelte ich. Hätten sie sonst Tina verlassen? Meine Gedanken behielt ich für mich. Wenn ich Tina beim Erzählen zuhörte, wünschte ich mir auch ein richtiges Zuhause mit Vater und Mutter. Weil ich nicht wollte, daß sie länger traurig war, machte ich ihr den Vorschlag, zusammen mit ihr zu ihrem Bruder zu fahren.
    Er war schon erwachsen und wohnte in der Gleimstraße, im letzten Hauseingang direkt an der Mauer. Hier sah ich die Schicksalsmauer, von der ich so viel gehört hatte, zum ersten Mal richtig. Sie trennte Berlin in zwei Stadtteile und damit ganze Familien, Freunde und Bekannte und auch Kinder von ihren Eltern. Weshalb und warum, ich wußte es nicht.
    In der Schule bemühten sich die Lehrer, auf unsere Fragen eine Antwort zu finden. Sie erzählten immer wieder, daß sich im Westen alte Nazis versteckt hielten und daß die Menschen dort Feinde unseres Landes seien. Die Kapitalisten wollten uns nur ausbeuten und uns alles wegnehmen. Wir Zehnjährigen glaubten daran.
    Die Mauer war noch nicht sehr hoch. Sie trennte einfach die Straße und zog sich durch einen Park mit einem Spielplatz. Wir gingen oft zum Schaukeln dorthin. So weit ich sehen konnte, nahm die Mauer auch hier kein Ende.
    Ich sagte gerade zu Tina: »Paß mal auf, deine Eltern werden dich bestimmt rüberholen«, als es plötzlich einen lauten Knall gab und sich stark beißender Rauch bildete. Wir sahen, wie Männer auf einen Baum kletterten und sich von den Ästen, die über die Mauer hingen, in den Westteil fallen ließen. Der Lärm wurde schlimmer, ebenso der Rauch. Ich dachte: Jetzt ist Krieg!
    So schnell wir konnten, rannten wir zur Wohnung des Bruders. Auf der Straße begegneten uns Lastwagen, vollbesetzt mit Soldaten. Leute, die vorher noch friedlich an der Mauer gestanden und sich Grüße zugerufen oder mit Taschentüchern gewinkt hatten, liefen wie gehetzt davon. Dabei schrien oder heulten sie, jeder versuchte, sich in einen Hausgang zu retten.
    Ich zitterte am ganzen Körper und weinte vor Angst. Von Haustür zu Haustür rannten wir längs der Mauer, wir wollten uns bei Tinas Bruder in Sicherheit bringen. Mir liefen die Tränen, ich konnte fast nichts mehr sehen. Im Treppenhaus kam uns der Bruder entgegen.
    »Wo seid ihr gewesen?« fragte er besorgt und erregt. Unter Tränen erzählten wir, was auf der Straße los war.
    Er schob uns in die Wohnung. An der Tür hielt ihn seine Frau mit den Worten zurück:
    »Bist du verrückt, geh nicht runter, die nehmen dich doch gleich mit.«
    Der Krach ließ nach, wir beruhigten uns und hörten, wie der Bruder mit dem Nachbarn auf der Treppe darüber sprach, daß Leute von drüben Tränengas geschossen hätten, um den Ost-Berlinern das Abhauen zu erleichtern.
    Als ich im Heim davon erzählte, fanden es die Mädchen aufregend und spannend.
    Die nächsten Wochen durfte allerdings kein Kind das Heim verlassen. Der Wald war wegen der Grenznähe mit Soldaten besetzt. Regelmäßig versorgten sie sich im Heim mit Wasser das sie in riesigen Kübelwagen holten. Am Heimtor hielten ältere Schüler in FDJ-Kleidung Wache. Ohne Kontrolle kam keiner herein und schon gar nicht hinaus. Die Begründung lautete: In dieser schweren Zeit ist unser Land in Gefahr, der Feind ist überall. Unser Spruch bei der Aufnahme in die Pionierorganisation, »Immer bereit«, fand in diesen Tagen seine Anwendung. Wir waren »immer bereit« für unseren Staat. Wachsamkeit war nun das höchste Gebot, jeder fremde Besucher konnte ein Feind sein.
    Der Rias-Sender im Radio war plötzlich ein »Hetzsender« und genauso streng verboten wie der »Groschenroman«. Daß uns der Westen über das Fernsehen keinen »Schaden« zufügen konnte, verdankten wir dem schlauen Einfall eines Erziehers. Er überklebte am Gerät den Umschaltknopf mit Heftpflaster, und die

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