Weinen in der Dunkelheit
schaute sie an und überlegte, was es darüber zu lachen gab; erst war sie so unglücklich und nun so froh. Von diesem Moment an konnte ich sie nicht mehr leiden. Durch ihre fröhliche Reaktion zerstörte sie meine Vorstellung, daß das Leben außerhalb des Heimes, in einer Familie, für ein Kind das ist, was mir fehlte: Liebe, Geborgenheit, Vater und Mutter.
Ich begann zu verstehen, wie schnell es gehen konnte, daß Kinder von ihren Eltern getrennt wurden und ins Heim kamen.
Unterschied zwischen Ost und West
Regelmäßig wurden wir politisch geschult. In Gesprächen mit ehemaligen KZ-Häftlingen und Irma Thälmann, der Tochter des ermordeten Arbeiterführers Ernst Thälmann, sowie durch Filme dieser Zeit hörten wir viel über die Vergangenheit der Arbeiterbewegung, die Verbrechen der Nazis und über die Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft. Mit Begeisterung ging ich zu den Pionierveranstaltungen, bis ich merkte, daß sich die Themen ständig wiederholten. Ich begann mich zu langweilen und drückte mich mit Ausreden vor diesen Nachmittagen. Bald waren nur noch die Streber anwesend. Unter Androhung von Disziplinarstrafen, ausgesprochen vor dem Kollektiv oder der Schule, gingen wir gezwungenermaßen wieder hin.
Einmal lockte uns die Pionierleiterin mit einer Skireise nach Oberhof, wenn wir das Abzeichen für »gutes Wissen« machen würden. Wir meldeten uns alle zu dieser Reise. Daß sie mit einer Prüfung unseres politischen Wissens und Denkens zusammenhing, störte uns nicht.
Ich hatte mit meinen dreizehn Jahren schon so viele Vorträge gehört, daß ich genau wußte, was man zu sagen hatte, damit man nicht durch die Prüfung fiel. Unsere Klasse fuhr geschlossen nach Oberhof.
Schon am ersten Abend lernten wir den Unter-schied zwischen Ost- und Westkindern kennen.
Wir schliefen in einem alten, verschnörkelten Holzhäuschen, zum Essen gingen wir in ein größeres Haus über den Hof. Voller Ehrfurcht blieben wir an der Tür zum Speisesaal stehen. Die Tische waren wundervoll mit weißen Decken und Servietten gedeckt. Auf den Tellern lagen seltene Früchte. Alles wirkte so festlich, daß wir uns nicht in den Saal trauten. So sahen die Tische im Heim nur zu Weihnachten aus.
Die Pionierleiterin sprach mit dem Küchenleiter, danach schickten sie uns in ein kleines Speisezimmer, das schon eher unseren alten Gewohnheiten entsprach. Wachstuchdecken, Stullenberge auf einem Teller mit den uns bekannten Leber- und Teewurstsorten.
Unbefangen, laut und fröhlich nahmen wir das Essen ein. Aber was wir gesehen hatten, vergaßen wir nicht und wollten Genaueres darüber wissen. Ich fragte die Pionierleiterin, für welche Fürsten nebenan die Tische gedeckt seien. Mit meiner Frage brachte ich sie in Verlegenheit. Erst sagte sie, sie wisse es nicht, aber dann erzählte sie uns eine traurige Geschichte.
»Nebenan im Haus sind Kinder aus der BRD, es sind alles Kinder von Arbeitslosen. Ihre Eltern können sich aus finanziellen Gründen keinen Urlaub mit den Kindern leisten. Unser Staat hat sie eingeladen, und sie verbringen hier ihre Ferien.«
Gleichzeitig verbot sie aber jeden Kontakt mit den Kindern, uns taten die Kinder aus der BRD leid, doch beim Anblick der Tische wurden wir jedesmal neidisch.
Als wir sahen, daß diese Kinder Schüler in unserem Alter waren, trafen wir uns heimlich mit ihnen. Ich lernte einen fünfzehnjährigen Jungen kennen. Er erzählte mir, daß auch ihnen der Kontakt mit uns untersagt sei. Wir verstanden die Welt nicht mehr!
Ausgenutzt
In der Schule saß ich neben Antje. Sie war ein ruhiges Mädchen und mir eine gute und verschwiegene Freundin. Ich brauchte keine Angst zu haben, daß sie etwas weiter erzählte. Sie hatte schönes kastanienbraunes Haar, das ihr in leichten Wellen über die Schultern fiel. Das blasse Gesicht war mit vielen kleinen Sommersprossen übersät, daraus schauten ernste braune Augen. Antje lachte wenig, sie wirkte gegen meine Albernheiten richtig erwachsen. Ihre verschlossene und zurückhaltende Art sowie ihr langsamer Gang brachte ihr den Spitznamen »Oma« ein.
Eltern hatte sie nicht, nur zwei Schwestern, eine in Hamburg und eine in Berlin. An den Wochenenden fuhr sie oft zu der Schwester in Berlin, die verheiratet war und zwei Kinder hatte.
Wenn Antje ein Paket aus Hamburg bekam, lag am Montag eine Tafel Schokolade auf meinem Platz unter der Schulbank.
Süßigkeiten waren im Heim eine Seltenheit. Hin und wieder bekamen wir Säcke voller Bonbons vom Zollamt, sie
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