Weinen in der Dunkelheit
Mal, daß ein Erzieher auch nur ein Mensch ist und kein fehlerfreier Pädagoge. Sie erzählte uns, daß sie für den Schaden aufkommen und nach den Ferien eine jüngere Gruppe in einem anderen Haus übernehmen müsse. Wir waren sehr betroffen, denn wir fühlten uns schuldig, weil wir sie überredet hatten, mit uns Boot zu fahren.
Bis zu ihrer Versetzung hatten wir ein so tolles Verhältnis zu ihr, daß wir weinten, als sie ging. Das waren unsere ersten und letzten Tränen wegen einer Erzieherin.
Erzieher in Not
Die »Neue« war eine elegante Frau Mitte Dreißig und Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann arbeitete auch im Heim als Hausleiter. Sie erzählte uns, daß sie Jüdin war und ihre Eltern in der Kristallnacht ermordet wurden. Durch sie erfuhren wir zum ersten Mal etwas über die Bedeutung der Kristallnacht. Sie kam in ein KZ und wurde 1945 schwer krank von den Russen befreit. Stundenlang hörten wir ihr zu. Sie verstand es, interessant zu erzählen, führte uns an das politische Denken heran, ohne daß wir es als Zwang empfanden. Sie fuhr mit uns in das KZ Sachsenhausen bei Oranienburg. Dort sah ich, was ich vorher nur vom Erzählen oder aus Büchern gekannt hatte.
Es war so grauenvoll, wie Menschen von Menschen gefoltert und getötet worden waren, daß ich froh war, damals nicht gelebt zu haben. Die Bilder im Hause des KZ-Arztes gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich sah immer die Experimentiertische vor mir, die Bilder von zersägten Körperteilen, die Berge von Haaren oder Zähnen sowie die Tischlampe aus einem Totenkopf. Wir waren alle erschüttert und konnten nicht begreifen, daß ein ehemaliger Häftling dieses Lagers dort die Führung machte. Die neue Erzieherin hatte es leicht mit uns. Nach dem, was wir nun über ihre Vergangenheit wußten, stieg sie in unserer Achtung.
Im Heim galt strenges Rauchverbot. Da jedoch einige Kinder heimlich rauchten, gab es Schüler, die sich das Wohlwollen der Erzieher dadurch sicherten, daß sie am Abend durch die Schonung schlichen, die Raucher beobachteten und sie anschließend meldeten. Denen wurde dann das Taschengeld gestrichen; das war eine harte Strafe.
Einmal stand ich mit den Rauchern meines Zimmers zusammen, obwohl ich Nichtraucher war. Ich ging immer mit, es war irgendwie spannend, etwas Verbotenes zu tun. Natürlich wurden wir auch verpetzt. Doch die Raucher übten eine Art Solidarität mit mir aus und setzten sich dafür ein, daß ich mein Taschengeld wieder bekam. Sie bekannten sich zum Rauchen und bezeugten, daß ich nicht rauchte. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich.
Unsere Erzieherin rauchte auch und wußte, daß weder Strafen noch Verbote halfen. Sie kannte die Rauchermädchen und sagte zu ihnen:
»Laßt euch nicht beim Rauchen erwischen, kommt lieber in mein Büro!«
Alle Mädchen schwärmten bald von ihr, wie toll sie war und wie gut sie uns verstand. Dann trat plötzlich eine Veränderung in ihrem Verhalten uns gegenüber ein. Wir merkten es sofort, sie wurde reizbar, verbot das Rauchen und schimpfte bei jedem kleinsten Disziplinverstoß. Die Situation wurde für uns alle unerträglich. Wir versuchten herauszufinden, was der Grund war, es gelang uns nicht. Bald machten wir, was wir wollten. Sie sagte gar nichts mehr, saß in ihrem Büro, rauchte oder heulte. Irgendwann reichte es uns. Wir hatten keinen Ansprechpartner mehr und hingen mit unseren Problemen völlig in der Luft. Eines Tages faßten wir den Entschluß zu einer Aussprache. Sie kam mit in den Schlafraum, und den ganzen Abend hörten wir uns ihre Sorgen und Probleme an, die mit uns gar nichts zu tun hatten. Sie redete sich alles von der Seele und vergaß dabei, daß wir Kinder waren. Ihr Mann hatte ein Verhältnis mit einer Erzieherin, die jetzt ein Kind von ihm erwartete, über das Verhältnis waren wir entrüstet und regten uns mächtig auf. Für uns sollten ja die Lehrer und Erzieher Vorbilder sein. Ich zweifelte daran, ob es von der Erzieherin richtig war, uns ihre Eheprobleme zu erzählen.
Wir wußten weder einen Rat, noch konnten wir ihr helfen. Ich begann, die Pädagogen kritischer zu betrachten und sie nicht mehr als Perfektion des Erwachsenseins zu sehen.
Ein paar Wochen später, wir saßen bei den Schularbeiten, platzte unsere Erzieherin im schwarzen Kostüm mit weißen Handschuhen in den Gruppenraum herein und rief laut lachend:
»Kinder, frei, endlich frei!«
Ich fragte, was sie mit »frei« meine, und sie antwortete, immer noch lachend:
»Geschieden!«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher