Weinen in der Dunkelheit
ihr kein Wort. Plötzlich merkte sie, daß ich sie nicht duzte, und sagte erschrocken:
»Aber Kind, ich bin doch deine Tante, du brauchst doch nicht Sie zu mir zu sagen.«
»Nein«, entgegnete ich heftig, »für mich sind Sie eine Fremde. Wenn Sie sich um uns gekümmert hätten, könnte ich Du sagen. Aber so - ich kann es nicht.«
Stark erregt sprach sie weiter auf uns ein.
»Die fünfziger Jahre waren schlechte Zeiten. Wir hatten doch nichts, und dein Onkel war fast zehn Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, wie hätte ich damals fünf Kinder versorgen sollen?«
Ausgerechnet mich fragte sie das. Ich wehrte mich verzweifelt:
»Ich weiß es nicht.«
Dem Heulen nahe, unterdrückte ich mühsam die aufkommenden Tränen, sie sollte mich nicht weinen sehen.
»Eure Mutter war immer unterwegs«, sagte sie. »Wenn ich mal bei euch vorbeikam, wart ihr immer allein und habt geweint vor Hunger. Ins Haus ist man ja nicht hineingekommen, sie vergaß nie, die Tür zu verriegeln. Und wenn mal zufällig ein Fenster offen war, habe ich euch Brot hineingeworfen.«
Was für eine Familie sind wir nur, dachte ich, und ich verachtete sie alle.
Auf dem Teppich spielte ein neunjähriges Mädchen, das mich neugierig musterte.
»Ist das meine Kusine?« fragte ich.
Froh, das peinliche Thema beenden zu können, sagte sie:
»Ja, ein Nachkömmling.«
Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür und das »Kofferradiomädchen« trat herein. Mein Bruder sah mich an, und dann lachten wir los. Verständnislos blickten uns die drei an. Auf einmal sagte meine Tante:
»Wie die Käthe!«
Mir erstarb das Lachen auf den Lippen, ich hatte es geahnt. Ich ähnelte meiner Mutter. Oh! wie ich sie haßte.
Zur Familie gehörte noch ein Sohn, den man gleich losschickte, unseren Opa zu holen. Er wohnte ganz in der Nähe. Mein Herz schlug schneller, und ich freute mich auf ihn. Große Dankbarkeit erfüllte mich ihm gegenüber, nachdem ich die Geschichte über uns gehört hatte. Ich schlug meinem Bruder vor, ihn auf der Treppe zu erwarten.
Ein wackliger, vom Alter gebeugter Mann trat durch die rostige Gartenpforte, die beim Öffnen quietschte. Das Laufen bereitete ihm offensichtlich große Mühe, denn er stützte sich schwer auf seinen Enkelsohn. Wir gingen ihm entgegen. Tränen der Freude liefen aus seinen fast erblindeten Augen über sein faltenreiches Gesicht. Schluchzend stammelte er Worte, die ich nicht verstand. Er fiel meinem Bruder um den Hals. Umarmt standen sie auf der Treppe.
»Daß ich das noch erleben darf, ist ein großes Geschenk Gottes«, hörte ich ihn sagen und trat einen Schritt näher. Ich wollte ihn auch begrüßen, aber er drückte mir nur ein Foto in die Hand und sagte:
»Deine Mutter!«
Dann schob er mich beiseite. Ein eisiger Schreck durchfuhr mich: Sah ich ihr so ähnl ich? Tieftraurig über sein Verhalten blieb ich allein auf der Treppe zurück. Als die anderen ins Haus gingen, schossen mir die Tränen aus den Augen und tropften auf das Foto, so daß ich die Frau, die darauf abgebildet war, nicht erkennen konnte. Ich wischte und wischte auf dem Foto herum, bis ich schmerzhaft merkte, wie sehr sie mir an diesem Tag fehlte. Ich bekam Angst, sie nicht mehr erkennen zu können. Sofort hörte ich zu weinen auf und betrachtete mir die Fotografie.
Eine wunderschöne Frau saß an einem Tisch, sie hielt in der rechten Hand ein Schnapsglas und prostete einem Mann lächelnd zu. Von dem Mann waren nur die Hand und die Ärmelmanschette zu sehen. Auf dem Tisch standen eine Kaffeetasse mit Untertasse und Biergläser. Meine Mutter, lustig lächelnd in einer Kneipe! Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, und langsam zerriß ich das Bild in kleine Fetzen.
Die Adresse meiner Mutter kannten unsere Verwandten nicht. Ich drängte meinen Bruder zu gehen. So schnell wie möglich wollte ich aus diesem Haus, in dem kein Platz für uns war und nie sein würde. Mit einer Lüge - bald wiederzukommen - verabschiedeten wir uns.
Als ich meinem Großvater die Hand drückte, wußte ich, es war das erste und letzte Mal. Als könnte er Gedanken lesen, sagte er zu meinem Bruder:
»Nun kann ich beruhigt sterben!«
Mein Großvater war wohl der einzige Mensch auf der Welt, dem wir wirklich etwas bedeutet haben.
Wiedersehen mit Antje
Ich traf Antje wieder. Eines Tages war sie plötzlich im Heim. Ihr Kind lebte in einem anderen Heim. Die Freude über unser Wiedersehen war wahnsinnig; leider schlief sie wieder nicht in meinem Zimmer. Sie mußte
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