Weinen in der Dunkelheit
gelebt hätten. Für sie waren wir schon tot.
Endlich der Sonnabend. Mein Bruder, der eigentlich viel ruhiger und beherrschter war als ich, konnte seine Aufregung nicht mehr verbergen.
»Komm, komm, beeil dich!« rief er mir zu, als ich das Heim verließ.
Am B ahnh of kaufte er noch drei Tafeln Schokolade und schenkte sie mir. Sie waren sehr teuer, aber er wußte, wie gerne ich Schokolade aß. Nur hätte ich jetzt kein Stück hinuntergebracht. Er steckte sie in seine Tasche, und ungeduldig schauten wir auf die S-Bahn-Uhr.
Als der Zug endlich kam, setzten wir uns schweigend einander gegenüber und sahen uns ernst in die Augen. Ab und zu stahl sich ein wissendes Lächeln auf unsere Lippen, ein Lächeln im Wissen um uns beide, um unsere Situation, und wir lachten plötzlich aus vollem Halse. Aber das Lachen klang nicht fröhlich oder glücklich. Es war nur ein sich Befreien von der Last, nicht zu wissen, wer man ist. Bald würden wir erfahren, wer wir sind, nur darüber konnten wir lachen.
Wir stiegen in Mahlsdorf in einen Bus um; irgendwo in Kaulsdorf wohnten sie. Je näher wir dem Ziel kamen, desto weiter weg wünschte ich mich. Ich bekam Angst. Ich konnte mir diese Angst nicht erklären. Mein Bruder sprach jetzt kein Wort mehr, hatte er auch Angst? Ich sah ihn an und konnte auch nicht mehr sprechen. Die Angst vor der Wahrheit! Mit einem Mal erkannte ich sie und wurde ruhig. Jetzt konnte mir nichts mehr passieren. Da fing plötzlich wie aus heiterem Himmel die Kühlerhaube des Busses an zu qualmen, und wir mußten aussteigen.
So gewannen wir noch etwas Zeit für uns zum Nachdenken. Am liebsten wäre ich zurückgefahren, aber automatisch, wie vom Mittelpunkt der Erde angezogen, setzte ich einen Fuß vor den anderen, als wenn das Rätsel meines irdischen Daseins nur dort bei dieser Familie eine Lösung finden könnte.
Ein Mädchen mit einem Kofferradio lief an uns vorüber.
»Das Girl kann man vergessen«, sagte mein Bruder, »aber das Radio war echt toll.«
Ich lachte und antwortete:
»Stell dir mal vor, es war vielleicht unsere Kusine l Es ist doch möglich, daß unsere Tante und unser Onkel eigene Kinder haben.«
Plötzlich hatte ich einen Gedanken, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Ob ich wie meine Mutter aussehe oder ihr ähnlich bin? Ich fragte meinen Bruder.
»Bist du verrückt?« meinte er »So wie du ist keine zweite, dich gibt es nur einmal.«
Dankbar für diese liebe Antwort drückte ich seine Hand.
»Aber wenn ich lache oder spreche? Sie werden bestimmt sagen: Wie die Käthe.«
Den Namen haßte ich wie die Pest, er war bei den Jungs große Mode, fast alle Mädchen wurden als »Käthe« oder »Stoneskäthe« bezeichnet. Und als ich in meiner Geburtsurkunde las, daß meine Mutter Käthe hieß, hoffte ich, daß es nie jemand erfahren würde.
Wir näherten uns dem Haus Nummer vier. Aus dem Fenster lehnte eine Frau, die ich auf Ende Vierzig schätzte. Ein eigenartiges Gefühl beschlich mich, als ich unseren Nachnamen auf dem fremden Klingelknopf las. Gerade als mein Bruder den Knopf drücken wollte, rief die Frau:
»Ach, Kinder, da seid ihr ja, kommt herein!«
Unwillkürlich dachte ich an das Märchen von Hansel und Gretel. Sie hatte uns schon wie eine Hexe erwartet, so als wären wir nur mal kurz zum Holzsammeln im Wald gewesen.
Meine richtige Tante - wie hatte ich den Tag herbeigesehnt und mir vorgestellt, wie es wäre, wenn... Nun stand sie endlich vor mir. Klein, mit wachen Augen, die flink hin und her huschten. Ich sagte ihr guten Tag und hatte dabei überhaupt keine Gefühle wie Freude oder Glück. Sie war für mich wie eine Fremde.
»Daß ihr noch lebt, das gibt es doch gar nicht!«
Immer wieder stammelte sie diesen Satz. Ihre Freude schien ehrlich zu sein, beeindruckte mich aber nicht im geringsten. Dann unterdrückte sie ihre Aufregung, indem sie geschäftig zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und herlief. Schließlich zeigte sie auf den Kaffeetisch und sagte:
»Kommt, Kinder, setzt euch schon, ich werde euch alles erzählen!«
Nun erfuhren wir, wie wir in dem Haus gefunden worden waren und daß keiner mehr daran geglaubt hatte, daß wir überleben würden. Als ich sie fragte, warum sie nie den Versuch unternommen hätten, uns zu suchen, rechtfertigte sie sich verlegen:
»Aber, Kind, wo denn? Das Jugendamt hat uns nie gesagt, wo ihr euch befindet. Es hieß immer: Wir wissen nicht, wo die Kinder sind,«
Ich erkannte die Notlüge als Folge ihres schlechten Gewissens und glaubte
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