Weinen in der Dunkelheit
schon arbeiten gehen, um die Heimkosten für das Kind aufzubringen.
Stundenlang saßen wir zusammen und redeten über die vergangene Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten. Sie war mit dem Mann ihrer Schwester noch zusammen. Seit der Scheidung lebte er allein und wollte bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag auf sie warten. Dann sollte sie für immer zu ihm ziehen. Ich verstand sie nicht.
»Wie kannst du bloß so einen alten Knacker lieben?«
»Was soll ich denn machen? Überall lauert er mir auf. Nirgendwo kann ich allein hingehen, gleich nach der Arbeit steht er schon am Werktor und verfolgt mich sogar bis ins Heim.«
Wir konnten in unserer Freizeit machen, was wir wollten, und sie mußte Mutter und Geliebte spielen.
»Paß mal auf«, sagte ich zu ihr, »den nächsten Ausgang verbringen wir gemeinsam, dann kommst du endlich wieder unter Jugendliche.«
Es war viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Am Sonntagmorgen nahmen wir uns vor, ihr
Kind, nach dem sie große Sehnsucht hatte, zu besuchen. Kaum traten wir aus der Haustür, stand ihr Verlobter, wie sie ihn nannte, schon abholbereit auf der anderen Straßenseite. Sie flüsterte mir zu:
»Siehst du, was nun?«
»Beachte ihn einfach nicht«, antwortete ich und zog sie am Ärmel ihres Pullovers mit fort. Prompt setzte er sich auch in Bewegung; im Abstand von wenigen Metern trottete er uns zur S-Bahn hinterher. Antje wirkte unruhig, nervös drehte sie ihre roten Locken zwischen den Fingern und schielte ständig in seine Richtung.
»Hast du Angst?« fragte ich sie.
»Nein, nein«, sagte sie hastig.
»Wenn du Angst hast, gehe ich zu ihm und frage ihn, weshalb er uns nicht in Ruhe läßt, und sage ihm, daß er verschwinden soll.«
»Laß es lieber, sonst wird er nur wütend, und dann kann ich mir später was anhören.«
»Möchtest du, daß ich zurückfahre?« fragte ich.
»Auf gar keinen Fall, wir verbringen den Tag gemeinsam.«
Sie schien doch mutiger zu sein, als ich dachte.
Das Säuglingsheim lag in einer schönen Villengegend in Berlin. Haus und Garten machten einen gepflegten Eindruck. Die Schwestern zeigten sich erfreut über Antjes Besuch. Sie holten die Kleine, aber vorher wollten sie wissen, wer ich sei. Der Vater durfte das Kind nicht besuchen.
Das Baby sah einfach zum Knuddeln aus. Winzige Löckchen kringelten sich auf seinem Kopf, und es lachte jedem zu. Als ich versuchte, es hinzusetzen, blieb es tatsächlich sitzen. Zum ersten Mal saß Antjes Kind, und sie war dabei. Wir lachten und alberten mit der Kleinen fröhlich herum, da kam die Schwester und sagte:
»Tut mir leid, die Besuchszeit ist zu Ende.«
»Was?« fragte ich fassungslos. »Nur dreißig Minuten können wir die Kleine sehen?«
»Es tut mir leid, aber Vorschriften sind nun einmal Vorschriften.«
Sie nahm das Kind, das fröhlich weiterlachte und nicht merkte, wie es gewaltsam von der Mutter getrennt wurde, und brachte es weg.
Bei Antjes Anblick wurde ich traurig, sie weinte leise. Ich versuchte sie aufzumuntern.
»Ach, laß mal, wir sind bald wieder hier.«
Der Verfolger oder Wachhund stand wieder in der Nähe, als wir das Heim verließen. Na warte, dachte ich, jetzt soll er sich mal wundern, und sagte zu Antje:
»Komm, wir fahren auf den Rummel, da ist immer was los.«
Zum Glück hatte ich mich nicht geirrt, eine große Clique von Jugendlichen war schon da. Wir stellten uns dazu, und im Nu war Antje von allen umringt. Sie bewunderten ihre Haare und fragten, ob sie echt seien oder gefärbt. Es dauerte nicht lange, da hörte ich ihr fröhliches Lachen wieder, und sie fuhr mit den Jungs Karussell.
Aber wo war ihr Typ geblieben? So sehr ich mich anstrengte, ich konnte ihn nirgends entdecken. Hatte er genug vom Nachlaufen und war vielleicht doch abgehauen? Antje jedenfalls hatte ihren Spaß und amüsierte sich prächtig. Glücklich drückte sie mich und sagte:
»Wenn ich dich nicht hätte!«
»Wer weiß, wie es mir mal geht«, sagte ich. »Komm, laß uns noch eine Runde drehen, dann müssen wir ins Heim zurück.«
Als wir aus der S-Bahn stiegen und zur Straße liefen, hätte uns beinahe ein Motorrad erwischt. Ich drehte mich erschrocken um, da hörte ich Antje sagen: »Komm, schnell, ins Heim! Das war er!«
Ich war wütend. So verdarb er uns doch noch den Abend, indem er Antje in Angst und Schrecken versetzte.
Parteitag
Wieder näherte sich ein Parteitag. Rotbeflaggt leuchteten die trüben Fassaden der alten Mietskasernen. Und im Stadtkern, wo die Neubauten
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