Weinen in der Dunkelheit
zu ihm. Die restlichen Tage des Urlaubs teilte Erika mit mir und Willi. Hatte er frei, war ich allein am Strand. Sie war völlig verändert, sie hatte nur noch Augen für Willi. Ich konnte ihn nicht ausstehen, nahm er mir doch meine Freundin weg.
Ich war froh, als wir wieder nach Berlin fuhren. Erika heulte Rotz und Wasser beim Abschied auf dem Bahnhof, dabei hatte sie doch einen Freund.
Freundin Marie
Im September begann die Schule, und ich traf wieder mit den Leuten aus meiner Klasse zusammen. Gleich am ersten Schultag schwänzten wir alle den Sportunterricht, der auf die letzte Stunde fiel, und tauschten in einem Cafe unsere Erlebnisse aus.
Prompt erschien am nächsten Tag der Schulleiter in unserer Klasse und ließ uns folgenden Text schreiben:
Liebe Eltern! Ich habe gestern den Sportunterricht geschwänzt.
Mit der Unterschrift der Eltern sollten wir den Zettel zur nächsten Stunde mitbringen. Für mich hätte dieser Zettel Ausgangssperre bedeutet. Der größte Teil der Schüler konnte eine Entschuldigung vorlegen. Ich gab den Zettel ohne Unterschrift ab.
Als der Schulleiter mich aufrief und fragte, weshalb die Unterschrift fehle, meldete sich Marie und sagte:
»Kann ich Sie bitte unter vier Augen sprechen?«
Sie verließen das Klassenzimmer. Nach wenigen Minuten wurde ich nach draußen gerufen.
»Weshalb hast du nicht gesagt, daß du aus einem Heim bist?« fragte der Schulleiter. »In Zukunft komm bei Problemen zu mir. Du hast es nicht nötig, jemanden vorzuschicken.«
»Ich habe Marie nicht geschickt, sie hat sich von allein gemeldet.«
»Na gut, dann sei froh, daß du so eine Freundin
hast. Die Sache mit der Fehlstunde ist erledigt.«
Ich konnte es nicht fassen: Zum ersten Mal hielt ein Pädagoge zu mir. Bei den Elternversammlungen wurde nur positiv von Seiten der Berufsschule über mich berichtet. Ich hatte mit meiner Schule Glück.
Mein erster Freund
Im Oktober 1967 lernte ich Peter kennen. Erika hatte gerade Zeit für mich, und wir gingen wieder einmal tanzen. Da stand er plötzlich mit seinen blonden Locken vor mir und deutete verschämt mit einer Handdrehung eine Aufforderung zum Tanzen an. Er gefiel mir, und ich tanzte den ganzen Abend mit ihm. Seit diesem Tag trafen wir uns regelmäßig.
Er war neunzehn Jahre alt und erlernte den Beruf eines Matrosen. Die Mädchen fanden ihn hübsch, und wenn er mich abholte, standen sie neugierig auf der Treppe. Einige wunderten sich, wie ausgerechnet ich zu diesem Jungen kam.
Endlich hatte ich für alle sichtbar einen Freund. Leider ließ er bald Verabredungen mit mir platzen. Ich stand dann traurig am Fenster und schaute stundenlang zum S-Bahn-Ausgang. Dabei redete ich mir ein: Wenn ich fest daran glaube, daß er kommt, dann kommt er auch. Oft klappte es tatsächlich. Dann freute ich mich, und wir gingen spazieren. Geld hatten wir beide nicht viel, um etwas zu unternehmen. Bei Peter reichte es nicht einmal für Zigaretten, obwohl er Raucher war.
Einmal gestand er mir, daß er schon lange nichts mehr gegessen habe. Voller Mitleid organisierte ich aus dem Heim etwas Eßbares. Oft verzichtete ich auf das Abendbrot und hob es für ihn auf.
Seine Mutter lebte in einem kleinen Dorf irgendwo auf dem Lande. Er wohnte mit noch fünf Lehrlingen in Berlin in einer umgebauten Wohnung, die sich Internat nannte.
Die meiste Zeit verbrachten wir bei seinem Freund.
Wenn die Mutter des Freundes nicht da war, hörten wir Musik und alberten herum. Ernsthafte Gespräche führten wir selten, und wenn, dann sprachen wir über den Bruder seines Freundes, der aus politischen Gründen im Gefängnis saß.
Für mich, die ich nicht viel von draußen wußte, war es schwer zu begreifen, daß junge Menschen ins Gefängnis kamen, nur weil sie auf der Straße zu einer Gitarre verbotene Lieder sangen. Jetzt lernte ich den verstohlenen Blick über die Schulter und das »Pst, leise, hört uns einer?« kennen. Der Bruder hatte folgendes Lied gespielt:
Es steht ein Haus in Ost-Berlin, ein Haus, weitab von rechts, da sieht man nie ein' Sonnenschein, ein' freien Mann als Knecht.
Sie trugen lange Haare und liebten Stones und Beat, dafür sitzen sie im alten Haus in der Keibelstreet.
Die Haare sind zu lang, zu lang, die Hosen sind zu weit, sie paßten wohl zu dieser Zeit, aber nicht in dieses Land.
Wer das Lied gedichtet hatte, wußten sie nicht. Wenn seine Mutter nach Hause kam, schimpfte sie mit ihm. Wir sollten nicht über dieses Thema reden, man könne ja nie wissen. Sie hatte
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