Weinen in der Dunkelheit
unserem Zimmer hieß Gisela und hätte mit ihren dreizehn Jahren eigentlich wie ein junges Mädchen aussehen müssen. Doch ihr Gesicht trug die Züge einer erfahrenen Frau und zeigte keine Spur von fröhlichem Kind. Ich fragte sie:
»Bist du denn nicht aufgeklärt worden?«
Sie lachte und sagte:
»Ja, gleich praktisch von meinem Stiefvater.«
Gisela erhielt von ihrer Mutter oft Besuch, und es war nicht zu übersehen, daß auch sie schwanger war. Dieses Zusammentreffen endete meistens mit Tränen der Mutter und Worten, die wir alle hören konnten:
»Bitte, verzichte auf Gerd (den Stiefvater), was soll denn aus uns werden? Denk doch mal an deine Geschwister!«
Gisela hatte acht Halbgeschwister, die alle von ihrem Stiefvater stammten. Nun saß er für Jahre in Bautzen, im Zuchthaus, das »das gelbe Elend« genannt wurde.
Die Mutter machte einen erbärmlichen Eindruck. Wenn sie ihre Tochter anflehte, doch auf ihren Mann zu verzichten, erweckte sie Mitleid in mir. Gisela lachte sie nur aus, und wenn die Mutter heulend davontrabte mit ihrem ausgemergelten, von vielen Geburten verformten Körper, lachte sie nur noch mehr und lästerte:
»Wie 'ne alte Oma.«
Uns gegenüber kannte sie keine Hemmungen; es machte ihr nichts aus, uns die Sache mit ihrem Stiefvater bis ins kleinste Detail zu schildern.
Gerlinde, sechzehn Jahre alt, hatte einen festen Freund, der sie nie besuchte. Aber nachts bekamen wir ungefragt die schärfsten Stellungen mit ihm zu hören. Sogar in eine fremde Laube waren sie eingebrochen, um in Ruhe zu bumsen. Ich fand die Geschichten gewaltig übertrieben.
Alle diese Mädchen waren nie im Heim gewesen und trotzdem total versaut. Nicht im entferntesten hatten wir untereinander so geredet. Mir war klar, daß es nur die Umwelt war, die in uns das Schlechte sah. Das Wort »Heim« war ein Stempel. Der Stempel war gleichbedeutend mit Knast, böse und verdorben. Mädchen mit Elternhaus konnten genauso sein, aber sie hatten nicht diesen Makel. Daß Kinder durch unfähige Eltern und Pädagogen negativen Einflüssen ausgesetzt waren, auf die Idee kam keiner.
Marlies, sechzehn Jahre alt, weinte viel. Ihr zwanzigjähriger Freund wurde seit dem Einmarsch der Nationale Volksarmee in der CSSR vermißt. Das sollte Bruderhilfe sein. Allgemein herrschte große Aufregung unter der Bevölkerung; fast alle waren dagegen, aber nur wenige mutig genug, es laut zu sagen.
Ich saß mit meinem Bauch in der Schwanger enburg und konnte nur auf Besuch hoffen, um die neuesten Nachrichten zu erfahren. Oft dachte ich über meine Erziehung in den vergangenen Jahren nach und verstand die Welt nicht mehr. Wieso marschierten nun wieder Deutsche in ein fremdes Land, noch dazu in ein sozialistisches? Die Frage blieb offen, und ich beschloß, weitab von Berlin, nicht mehr darüber nachzudenken und mich nur noch auf mich und das Kind zu konzentrieren.
Schon bald hielt ich das schweinische Gerede der Mädchen nicht mehr aus und bat die Heimleiterin, mich in ein anderes Zimmer zu verlegen. Mein Wunsch wurde sofort erfüllt, und ich zog erfreut mit meinen Sachen in ein Zweibettzimmer mit Blick über den verwilderten Garten zum See.
Meine Bettnachbarin Ruth stellte sich als Russischlehrerin und schon Ende Zwanzig vor. Obwohl ich Lehrer und Erzieher nicht ausstehen konnte, verstanden wir uns bald prima. Sie machte erst gar nicht den Versuch, Frau Doktor Klugschiß herauszukehren. Von der Arbeit völlig entnervt, erhielt sie als Schwangere diese Kur zur Erholung. Als sie hörte, daß ich bis zur Entbindung hierbleiben würde, bedauerte sie mich aufrichtig. Sie empfand genau wie ich, daß der Ort ein stinklangweiliges Nest war. Wir schlugen die Zeit mit endlosen Wanderungen, Lesen und Gesprächen tot.
Ende September setzten bei ihr die Wehen ein, und sie kam ins Krankenhaus. Von diesem Tag an sah ich sie nicht wieder und wohnte allein im Zimmer.
Drei Mädchen aus dem ersten Zimmer hatten ent-bunden, und es kamen neue. Petra hatte eine Hasenscharte, war aber sonst ein hübsches Mädchen. Sie erwartete das Kind von einem Montagearbeiter, der auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Ihre große Sorge galt dem Kind, daß es nicht auch die Hasenscharte erben würde.
Elvira war auf einer Fete vergewaltigt worden und mußte jetzt das ungewollte Kind austragen.
Vera, eine Geschiedene mit zwei Kindern, hatte sich mit dem Busfahrer ihres Ortes eingelassen, hoffte aber trotzdem auf die Rückkehr ihres Mannes.
Wir saßen viel zusammen, redeten über
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