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Weinen in der Dunkelheit

Weinen in der Dunkelheit

Titel: Weinen in der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ich nickte nur noch mit dem Kopf. Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ mich stehen. Wütend rannte ich ihm hinterher. Er schüttelte meinen Arm ab und sagte:
    »Laß mich, ich muß darüber nachdenken.« Schweigend gingen wir nebeneinander her, jeder hing seinen Gedanken nach und traute sich nicht, sie auszusprechen. Ich ertrug die Kälte zwischen uns nicht länger und faßte mir ein Herz:
    »Wenn du deine Entscheidung getroffen hast, melde dich wieder.«
    Enttäuscht fuhr ich ins Heim zurück.
    Peters Ratlosigkeit störte mich eigenartigerweise nicht, warum auch, es erging mir ja nicht anders. Ich tröstete mich mit meinem Optimismus. Bis zur Geburt des Kindes war noch viel Zeit, und irgendwie würde es schon weitergehen.
    In der Schwangerenberatung wurde ich mit Blicken taxiert wie ein neues Modell auf dem Laufsteg. Nachdem ich alle Intimfragen - letzte Regel, Name des Kindesvaters - beantwortet hatte, wurden Bauchumfang und Körpergröße gemessen. Danach folgte eine gynäkologische Untersuchung, und der Arzt bestätigte mir eine gesunde Schwangerschaft Ende des vierten Monats. Dann kamen noch einige neugierige Fragen, wie es im Heim sei, was ich lernte usw. Anschließend wurde ich mit den Worten »Na, dann alles Gute bis zum nächsten Termin in vier Wochen« entlassen. In der Hand hielt ich einen Schwangere-nausweis, der mir in jedem öffentlichen Verkehrsmittel einen Sitzplatz zusicherte und mich dazu berechtigte, im Konsum oder Kaufhaus die Erste in der Schlange zu sein. Aber eine Beratung für mich und mein Kind, wie ich sie mir wünschte und gebraucht hätte, fand ich nicht. Mir blieb nicht nur die Freude auf das Kind. Die Sorgen, wie es weitergehen sollte mit uns, blieben auch.
    Die Arbeit in der Fabrik war körperlich sehr anstrengend. Als Lehrling ersparte man uns keine Abteilung des Werkes. Wie die Jungen mußten wir Mädchen an den Maschinen arbeiten, ob an der Stanze oder Walze. Auch die stinkende Presse mußten wir bedienen, wo der erhitzte Gummi in die Form von Wärmflaschen gepreßt und anschließend als Produkt »Hergestellt in der Schweiz« dem »Klassenfeind« im Westen verkauft wurde. Nun stand mir laut Gesetz ein Schonplatz zu, den ich prompt als Akkordarbeiterin bekam. Im Sitzen schnippelte ich acht Stunden lang die Gratränder vom Gumminippel für Nasentropfenpipetten ab. Hier galt es, die Norm für Lehrlinge zu schaffen. In den ersten Tagen konnte ich vor lauter Blasen meine Hände zu nichts anderem mehr gebrauchen. Später verhornten die Stellen, und ich schaffte meine Norm, aber ich haßte die Arbeit. Wie freute ich mich auf die Mittagspause, endlich konnte ich den schweinischen Witzen und den Alltagssorgen der Frauen entrinnen. Mein Blick aus dem Fabrikfenster fiel auf das Eingangstor des Jüdischen Friedhofs Weißensee. Heimlich kletterte ich aus dem Klofenster und verbrachte meine Pausen beim Spazierengehen durch die Alleen der teilweise wunderschönen Gräber. Viel zu schnell vergingen immer die dreißig Minuten der Ruhe, die ich mit Lesen oder Nachdenken im kühlen Schatten der alten Bäume verbrachte. Selten traf man hier auf einen Menschen, der eine Grabstätte besuchte.
    Peter kam wieder, aber er war nicht mehr wie früher.
    Das Thema Kind vermied er anzusprechen, ich merkte nur, wie er heimlich auf meinen Bauch schielte. Wir gingen kaum noch miteinander aus, ich hatte den Eindruck, daß er sich mit mir schämte. Ich litt unter seiner Eitelkeit; mir war der Bauch auch nicht angenehm, und einige tröstende Worte von ihm hätten mir gut getan. Langsam begann ich, ihn wegen seiner Feigheit zu hassen. Mir wurde klar, daß es für uns keine gemeinsame Zukunft gab.
    Mein Bruder wurde mein Beichtvater, ihm vertraute ich alles an. Er tröstete mich und sagte:
    »Mach dir keine Sorgen, du hast ja mich, wir werden es schon schaffen.«
    Sooft er Zeit hatte, fuhr er mit seinem Rennrad von Lichtenberg bis nach Treptow, um mich zu besuchen. Seit er ständig bei seinen Pflegeeltern lebte, hatte er sich völlig verändert. Seine schulischen Leistungen wurden gut, und er lernte Betonbauer. Ich freute mich für ihn. Wenn er in den Werkhof gekommen wäre, hätte ich ihn bestimmt nie wieder gesehen.
    Eines Tages erzählte er mir stolz von seiner Freundin, einem Mädchen aus seiner Klasse. Sie war klein, hatte eine kurze Ponyfrisur und sprach mit hoher Stimme Hochdeutsch. Als wir uns kennenlernten, musterte sie mich verächtlich. Für sie war ich »die aus dem Heim« und stahl ihm seine wenige Zeit.

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