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Weinrache

Weinrache

Titel: Weinrache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Kronenberg
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nachdenklich. »Weniger das, was die Menschen aus ihm gemacht haben. Die begradigten Ufer, die ausgebaggerten Fahrrinnen. Finden Sie es nicht bezeichnend, dass man einen solchen Fluss eine Wasserstraße nennt?«
    »Trotzdem ist und bleibt der Rhein ein Lebensraum. Es soll sogar wieder Lachse geben.«
    Er nickte stumm und widmete seine Aufmerksamkeit dem Biebricher Schloss. Die Straße führte unterhalb der Terrasse entlang. Die Fenstersimse in der trotz der strengen Symmetrie verspielt wirkenden Fassade leuchteten in der Nachmittagssonne in einem kräftigen Orange, dem der Kontrast zu den weißen Wandflächen eine zusätzliche Wärme verlieh.
    »Nicht alles Menschenwerk ist verschandelt«, dozierte Sundermann. «Sehen Sie dieses wunderschöne Schloss! Ein Nassauer Versailles, so sagt man. Wussten Sie, dass sich Goethe, als er in Wiesbaden zur Kur war, jeden Sonntagnachmittag in Gesellschaft des alten Herzogs Friedrich August dort oben in der Rotunde seinen Schoppen schmecken ließ?«
    Norma warf ihm einen verdutzten Blick zu.
    Er lachte leise. »Ich überrasche Sie? Sie wissen doch, ich hatte viel Zeit zum Lesen.«
    Die Fußgängerampel sprang auf Gelb um. Norma trat auf die Bremse.
    Er lachte wieder. »Sagen Sie bloß, Sie haben sich nicht über mich erkundigt? Ich dachte, es sei ein Zwang bei euch, jeden in der Umgebung genau unter die Lupe zu nehmen.«
    Norma blickte dem jungen Mann mit Kinderwagen nach, der eilig die Straße überquerte. »Ich bin nicht mehr bei der Polizei, wie Sie wissen.«
    »Na und? Sie kennen bestimmt jemanden, der Zugang zu allen Daten hat.« Er deutete nach vorn. »Grüner wirds nicht!«
    Norma gab Gas. »Bilden Sie sich nichts ein! Wieso sollte ich ausgerechnet Ihretwegen nachfragen?«
    »Immerhin interessieren Sie sich für meinen Heimweg. Können Sie bitte das Fenster schließen?«
    Empfindlich war er auch noch! Sie ließ die Scheibe einen Spalt offen.
    »Es gibt also Daten über Sie. Haben Sie eingesessen?«
    »Wie nett Sie das sagen.«
    »Warum wurden Sie verurteilt?«
    »Wegen Ärger, könnte man meinen. Bleiben Sie auf dieser Spur. Auf der Autobahn über das Schiersteiner Kreuz, so geht es am schnellsten.«
    Von Biebrich, Wiesbadens südlichem Stadtteil, führen verschiedene Wege nach Norden hinauf in die Taunusberge. Auch das Biebricher Gebiet ist nicht gänzlich flach und wird durch die Biebricher Höhe von dem Kessel abgegrenzt, in dem sich die Innenstadt ausbreitet. Norma folgte Sundermanns Vorschlag und nahm die Autobahn, genauer einen Zipfel der A 643, der auf den letzten Kilometern auf das Stadtzentrum zuführte, und bog nach links auf den Kaiser-Friedrich-Ring ab, um die Innenstadt in weitem Bogen zu umrunden. Ende August machte sich die Ferienzeit bemerkbar, und so kamen sie trotz des Berufsverkehrs zügig voran und verließen nach 10 Minuten die Stadt über die steil ansteigende Platter Straße. Hier begann der Wald, der auf der Nordseite der Stadt unmittelbar an die Wohnhäuser grenzte; ein lichter Buchenforst mit verträumten Wegen. Dank der Bäume war das Klima angenehmer als am Rhein; das spürte man vor allem im Sommer, wenn sich die Hitze auf die Stadt legte. Die Luft, die durch den schmalen Fensterspalt in den Wagen strich, schmeckte nach Sauerstoff und Laub. Norma drehte die Scheibe herunter. Bei dem Schneckentempo, mit dem der Wagen die Steigung in Angriff nahm, konnte sich ihr Fahrgast an der Zugluft nicht stören. Der Fiesta kämpfte sich im dritten Gang voran und hielt mühsam das Tempo des Busses, dem sie folgten. Auf der Überholspur zog ein Wagen nach dem anderen vorbei.
    Norma drückte aufs Gaspedal. Bisweilen erlaubte sie sich einen heimlichen Stolz auf ihren Instinkt. Sundermann war also vorbestraft. Falls er sie nicht auf den Arm nahm, was sie nicht ausschließen durfte. Die Wahrheit würde sie morgen von Irene erfahren; ebenso die Art seines Vergehens. Sie wünschte, ihre Menschenkenntnis hätte sie in diesem Fall getrogen, und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sundermann schaute geradeaus aus dem Fenster und schwieg. Die Narbe am Kinn lag im Schatten. Er wirkte angespannt.
    Ob er in der besagten Nacht ebenfalls die Platter Straße genommen habe?, fragte sie beiläufig.
    Er nickte, ohne sie anzusehen. »Das ist der kürzeste Weg auf die Hühnerstraße. Kennen Sie das Kastell ›Zugmantel‹? Ein Stück danach geht es links ab in einen Waldweg. Von dort ist es nicht mehr weit zu dem Haus, in dem ich wohne.«
    Das römische Kastell lag am Limes, und

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