Weinrache
blinzelte ins Sonnenlicht. In der Hand hielt sie ein Brecheisen.
Norma fühlte sich mit neugierigem Wohlwollen begutachtet. »Sie waren neulich erst hier. Sind Sie eine Freundin von Tiri?«
Norma nickte und nannte ihren Namen.
Die alte Dame nahm das Brecheisen in die andere Hand und begrüßte Norma mit Handschlag. »Vroni Zurmühlen. Ich wohne dort drüben.«
Norma fragte nach Sundermann. »Ich muss Tiri dringend sprechen. Wo kann ich ihn finden?«
Das wüsste sie selbst gern, antwortete die Nachbarin. Tiri sei am frühen Morgen fortgefahren, erzählte sie, und sie habe ein Problem.
»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Norma höflich.
Die alte Dame bat sie in den Schuppen. Drinnen war es angenehm kühl. Eine Neonröhre leuchtete den Raum aus. Bis zum Dach türmte sich sorgsam geschichtetes Brennholz. Sie heize das Haus mit einem Kachelofen, erklärte Vroni Zurmühlen, und all das Holz habe Tiri für sie gesägt und gestapelt und gerade noch genügend Platz für seinen Wagen übriggelassen.
Norma schaute in eine hintere Ecke: Holzscheite bis zur Decke auch dort. »Das sieht nach viel Arbeit aus.«
Vroni Zurmühlen pflichtete ihr bei. »Ohne Tiri müsste ich im Winter im Kalten sitzen. Am vorletzten Samstag hat er von morgens bis abends mit dem Holz geschafft. Es war der Tag, an dem dieser schreckliche Mord geschah. Auf dem Weinfest wurde ein Mann erschossen. Sie haben sicherlich davon gehört.«
Leider weiß ich davon nicht nur durch Hörensagen, dachte Norma und wünschte sich hinaus ins Freie. Heraus aus dieser Enge. Ein kindischer Impuls, dem nachzugeben sie sich nicht erlauben würde. »Haben Sie hier gemeinsam gearbeitet?«
Früher habe sie die Stämme eigenhändig zerteilt, aber dazu fehlten ihr inzwischen die Kräfte, bekannte Vroni Zurmühlen. Gewöhnlich gehe sie Tiri beim Aufschichten zur Hand, aber an dem Samstag habe ihr Rücken nicht mitgemacht. Zur Entschädigung habe sie Tiri mit einem kräftigen Frühstück und später mit einem Mittagsmahl versorgt. Er sei mit dem Braten sehr zufrieden gewesen, was sie besonders freute, weil er ein ausgezeichneter Koch sei, fügte sie mit einem Schmunzeln hinzu.
»Wissen Sie, dass er oft für Gesellschaften kocht? Und damit sind wir bei meinen Sorgen. Eine Truhe kühlt nicht mehr. Darin verdirbt doch alles! Sehen Sie!«
Zwei kastenförmige Kühltruhen standen vor der hinteren Wand. Man konnte bequem mit dem Wagen he-ranfahren und die Vorräte aus dem Kofferraum ausladen und hineinpacken.
Vroni Zurmühlen legte das Brecheisen auf eine Truhe. »Hören Sie, wie brav bei dieser der Motor brummt? Aber die andere, die schweigt wie ein Grab.«
Sie hob den Deckel der brummenden Truhe an. »Hier drin ist jede Menge Platz. Ich wollte die Lebensmittel umpacken, bevor alles auftaut. Aber die andere Truhe ist versperrt. Tiri muss etwas Wertvolles darin aufheben.«
Um diesen Schatz zu bergen, hielt sie das Brecheisen bereit. Ob Norma nicht ihre Kräfte an dem Schloss messen wolle?
Norma beugte sich über das Vorhängeschloss. Es hielt eine schwere Fahrradkette zusammen, die um die Griffe der Truhe geschlungen war. Die Kratzer am Metall bezeugten Zurmühlens gescheiterten Bemühungen. Norma lupfte den Deckel, der sich nur soweit anheben ließ, dass eine flache Hand durchpasste. Schnelle Schritte ließen beide Frauen herumfahren. Tiri eilte heran. Er wirkte beunruhigt.
»Endlich bist du da!«, flötete die Zurmühlen. »Schau unbedingt nach den Lebensmitteln! Der Motor hat ausgesetzt!«
Er ruckelte am Schloss, prüfte dessen Zustand und legte seiner Nachbarin den Arm um die Schulter. »Das ist lieb gemeint, Vroni. Aber in der Truhe sind nur ein paar Kaninchen vom Bauern.«
»Kümmere dich darum, bevor das Fleisch schlecht wird!«
»Das werde ich tun, Vroni. Und dich möchte ich bitten, die Hände von meinen Sachen zu lassen. Haben wir uns verstanden?«
Die alte Dame stelzte mit beleidigter Miene davon.
Tiri grinste angespannt. »Vroni ist eine liebenswürdige Person. Aber ihre Neugier kostet Nerven.«
Norma klopfte auf die Truhe. »Seit wann sind tote Karnikel so kostbar, dass man sie einschließen muss?«
»Wenn du es unbedingt wissen willst: Da drin liegt eine Wildsau. Ein Kollege vom Bau hat sie auf der Hühnerstraße tot gefahren und eingeladen, der Dummkopf.«
»Das ist Wilderei und damit strafbar!«
Tiri stimmte ihr zu. »Aber das Viech lag nun einmal bei meinem Kumpel im Kofferraum. Er wusste nicht wohin damit, und ich sollte das
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