Weinrache
es eine offizielle Angelegenheit der Polizei. Genauso gut könnte sie Arthur beim Finanzamt anzeigen. Tiris Bedenken waren berechtigt. Das Schwarzgeld könnte Arthur gefährlich werden.
Für einen Alleingang brauchte sie Unterstützung. Besaß Lutz die Nerven dafür? Er war durch die Sorgen um seinen Sohn reichlich mitgenommen. Keine guten Voraussetzungen für einen Einsatz gegen den Erpresser.
In dieser Nacht wollte sie keine Entscheidung treffen. Der Kater hatte sich längst durch das offene Fenster in die Finsternis davongeschlichen, als Norma zu Bett ging.
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Dienstag, der 29. August
Norma erwachte von dem Gezänk eines Sittichpaares. Die grasgrünen Papageien kletterten auf dem Dachfenster herum und flatterten kreischend davon, als sie das Laken anhob, mit dem sie sich zugedeckt hatte. Um kurz nach sieben heizte die Morgensonne den Dachzimmern schon tüchtig ein. Nach dem Frühstück, bei dem Norma mit Rücksicht auf ihren Magen auf den Kaffee verzichtete und sich mit Früchtetee begnügte, blieb sie am Tisch sitzen und nahm sich den Erpresserbrief vor, als könnte er ihr neue Erkenntnis liefern. Dabei wusste sie jedes Wort, jede Wendung auswendig.
Den Montag hatte sie genutzt und sich bei der Bank nach dem Stand des Depots erkundigt, dessen Höhe die geforderte Summe knapp überschritt. Der Bankangestellte, der sie seit Jahren kannte, war ihrer Anfrage mit einem verschwörerischen Eifer begegnet. Ein vertrauliches Blinzeln hätte sie nicht überrascht. Norma hatte sich ausdrücklich sein Stillschweigen versichern lassen. Die Polizei blieb zunächst aus dem Spiel. Abgesehen von dem Risiko für Arthur, der sich vielleicht strafbar gemacht hatte, scheute sie die Vorstellung, zum begehrten Kantinenthema zu werden. Auch Lutz wollte sie vorerst nicht einweihen. Erst in den letzten Jahren waren Vater und Sohn einander näher gekommen. Arthur war seinem Vater in dessen Flehen um Absolution für die Versäumnisse der Kindheit mit überraschendem Großmut begegnet. Trotzdem war die Versöhnung nicht ohne Schuldzuweisungen verlaufen. Sie wollte Lutz nicht zusätzlich mit der Entführung belasten.
Die Frage nach einem Helfer, der zum vorgegebenen Zeitpunkt den Übergabeort im Blick behielt, ließ ihr keine Ruhe. In Gedanken ging sie ihre Klienten durch. Der eine oder andere schien durchaus vertrauenswürdig, aber durfte sie einen Außenstehenden in eine womöglich riskante Situation bringen? Kurz dachte sie an Irene, ihre mütterliche Freundin. Irene war eine zuverlässige Informationsquelle und unentbehrlich für alle Aufgaben, die sich am Schreibtisch erledigen ließen, aber ungeübt in praktischen Einsätzen. Und außerdem bezweifelte Norma, ob sie sich in diesem Fall auf Irenes Verschwiegenheit verlassen durfte. Wie man es auch drehte und wendete, letztendlich kam sie jedes Mal auf nur eine Person zurück, die ihr die erforderliche Hilfe leisten könnte.
Am späten Vormittag schloss sie das Büro, stieg in ihren Wagen und verließ die Stadt in nördlicher Richtung. Um halb 12 überquerte sie die Platte. Bald darauf erreichte sie das Waldstück, bemerkte die Einmündung jedoch zu spät und musste einige Kilometer weiterfahren, bis sie bei der Hühnerkirche, die wie ein Gotteshaus gebaut war, aber eine Wirtschaft beherbergte, gefahrlos wenden konnte. Beim zweiten Versuch verpasste sie die Einfahrt nicht und gelangte nach kurzer Fahrt zu den beiden Häusern, die still und einsam in der Mittagssonne lagen. Vergeblich hielt sie Ausschau nach dem roten Toyota, dem neuen alten Wagen, von dem Tiri gesprochen hatte. Vielleicht war das Auto im Schuppen abgestellt, und sie hatte den Weg nicht umsonst gemacht? Sie parkte wie beim ersten Besuch vor dem morschen Zaun und ging zur Haustür. Es gab keine Klingel, also klopfte sie laut an die Tür. Vergebens. Enttäuscht kehrte sie um und wandte sich dem zweiten Haus zu, hinter dessen Fenster sich neulich die Gardine bewegt hatte. Nun war niemand zu bemerken. Margeriten blühten in einem Kübel vor der Haustür, und darüber hing ein getöpfertes Schild mit der Inschrift ›Zurmühlen‹, daneben die Klingel, auf die Norma nun drückte. Aber auch hier wurde sie nicht empfangen. Sie umrundete das Haus und schaute im Garten nach, einem Hort prächtiger Blütenfülle, aber ohne eine Menschenseele. Ein Plattenweg führte auf den Schuppen zu. Das Tor stand einen Spalt offen. Auf Normas Rufen trat eine schlanke Frau heraus; das weiße Haar trug sie kurz geschnitten. Sie
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