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Weinrache

Weinrache

Titel: Weinrache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Kronenberg
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Fleisch verwerten. Vroni darf nichts davon erfahren. Sie ist viel zu ehrlich, um so etwas zu dulden. Und du?«
    Norma wehrte ab. »Im Augenblick habe ich andere Sorgen als ein totes Schwein.«
    Er fasste ihren Arm und führte sie mit sanftem Druck von den Kühltruhen fort. Sie trug ihm ihre Bitte flüsternd vor, falls die gute Vroni vor dem Tor ihrer Neugierde huldigte.
     

25
    Am frühen Dienstagabend verließ Lutz das Wiesbadener Kunsthaus. Mit leichten Schritten schlenderte er die Straße hinauf. Unversehens wurde ihm bewusst, dass er in den vergangenen Stunden nicht eine Minute über Arthurs Schicksal gegrübelt hatte. Der erste Impuls war ein Gefühl der Scham und die Befürchtung, seine väterliche Liebe könnte aufweichen. Der Zusammenkunft mit einem Fotografen, der das Kunsthaus als Treffpunkt vorschlug, hatte er den unbeschwerten Nachmittag zu verdanken. Lutz wollte die Aufnahmen für die neue Ausgabe des Kalenders mit Wiesbadener Motiven heraussuchen, den er jährlich veröffentlichte. Bekannte Gebäude wie die Marktkirche, das Kurhaus, die Russische Kirche beim Neroberg (oder die Griechische Kapelle, wie sie im Volksmund hieß) durften ebenso wenig fehlen wie besondere Beispiele der Baukunst des Historismus. In jeder Ausgabe legte Lutz außerdem Wert auf weniger populäre Ansichten der Stadt. Dem Fotografen waren unter anderem in ihrer Perspektive ungewöhnliche Aufnahmen der ›Villa Stella‹ gelungen, die er unbedingt dazunehmen wollte.
    Nicht allein die Architektur seiner Heimatstadt lag ihm am Herzen. Immer wollte er auch etwas Lebendiges zeigen. Dieses Mal hatte er sich für ein Bild aus der Fasanerie entschieden, das einen Blick in das Bären- und Wolfsgehege zeigte. Im Herbstlaub ruhte ein Braunbär in der Sonne, und hinter seinem Rücken pirschte mit listigem Blick ein Wolf vorüber. Für die Sparte Kunst war seine Wahl auf die ›Froschkönigin‹ vom Biebricher Rheinufer gefallen. Die junge Frau auf der Kaimauer war das Werk einer Wiesbadener Bildhauerin. Mit ihrer stolzen Unbekümmertheit, in der Lutz zudem eine Spur Melancholie zu entdecken glaubte, erinnerte die Figur ihn an Norma in den ersten Jahren mit Arthur. Von der kleinen Krone und der roten Nasenspitze einmal abgesehen.
    Voller Vorfreude auf den Kalender wanderte er am Spielplatz vorbei und erreichte den höchsten Punkt einer bescheidenen Grünanlage. Von der Terrasse aus schaute man weit über die Dächer der Stadt hinweg. Unterhalb seines Aussichtspunkts lag das Römertor. Aufgesetzt auf uralte Reste eines römischen Aquädukts, überbrückte die rustikale Holzkonstruktion die Höhenunterschiede zwischen der Innenstadt und dem Schulberg. Aus Lutz’ Blickwinkel war der überdachte Steg einsehbar. Ein junges Paar schlenderte Hand in Hand über die Brücke, entschwand für einen Moment seinen Blicken, um gleich darauf auf der Treppe aufzutauchen. Lutz schaute nach rechts auf den Fußweg, der am Spielplatz vorbei zum unteren Teil der Grünanlage hinunterführte. Dort fiel ihm eine Passantin auf, die ungeachtet des lauen Sommerabends in einen wadenlangen braunen Regenmantel gehüllt war. Das Kopftuch hatte sie tief ins Gesicht gezogen, und sie trug eine Sonnenbrille mit übergroßen Gläsern. Die Frau eilte die Stufen hinab, blieb mehrmals abrupt stehen und sah sich so ängstlich um, dass ihm hässliche Begriffe wie Ehrenmord und Zwangsheirat in den Sinn kamen und er unwillkürlich nach einem Verfolger Ausschau hielt. Tatsächlich entdeckte er jemanden, der wiederum den Weg aufmerksam beobachtete. Er stand auf der unteren Terrasse, mit dem Rücken zu Lutz. Ein muskulöser Mann, dunkelhaarig und leger in Jeans gekleidet. Jetzt duckte er sich hinter einen Busch und zog einen Gegenstand aus der Hosentasche. Doch keine Waffe? Nein, nur eine Digitalkamera, erkannte Lutz. Die Frau umrundete einen Papierkorb und spähte zu allen Seiten und nach oben, doch der Mann hinter dem Busch entging ihrer Aufmerksamkeit ebenso wie Lutz, der sich eine Terrasse darüber aufhielt. Schließlich bückte sie sich und zog eine blaue Tüte aus dem Abfallbehälter. Sie griff in die Tüte, nahm etwas heraus. Einen Briefumschlag? Sie riss ihn ungeduldig auf. Danach stocherte sie mit einem abgebrochenen Ast im Abfall herum.
    Lutz trat einen Schritt zurück, als sich der Augenzeuge rührte. Der Mann machte weitere Aufnahmen von der Frau, die nun den Stock ins Gebüsch warf und den Umschlag in die Manteltasche schob. Lutz besaß seit jeher ein gutes Gedächtnis für

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