Weinrache
Bewegungen. Die Art, wie die Frau sich umwandte und mit langen Schritten die Treppe wieder hinaufstieg, kam ihm vertraut vor, ohne dass er ein Gesicht damit verbinden konnte. Als sich aber der Beobachter vom Ausguck abwandte und sein Profil zeigte, erkannte Lutz den unschlüssigen Gast aus dem ›Maldaner‹.
Er folgte ihm bis zum Spielplatz. Ein Taxi fuhr vo-rüber. Mit der Frau im Mantel auf dem Rücksitz? Der Verfolger kehrte um, und Lutz verschwand mit raschen Schritten hinter einer Hecke. Als er den Mann aus dem Blick verlor, setzte er seinen Weg nach Hause fort. In seiner Fantasie spann er eine Geschichte um seine Beobachtungen und leistete eine stille Abbitte an Norma. Das Versteckspiel hatte ihm gefallen. Zum ersten Mal ahnte er etwas von der Faszination des Rätselhaften, das Norma an ihrem Beruf so sehr liebte.
26
Nähert man sich von der Stadtmitte dem Römertor, erscheint es dem Betrachter dank seiner Zinnen und dem Fachwerkturm so wuchtig wie ein Teil einer Burg-anlage. Nur Fußgänger haben Zugang zur Brücke. Eine enge Steintreppe führt nach oben. Norma ließ die Sorge nicht los, einen Fehler zu machen, als sie die Stufen hinaufstieg. War es nicht leichtsinnig, in dieser heiklen Angelegenheit ausgerechnet auf Sundermann zu vertrauen? Ob er seinen Posten bezogen hatte, konnte sie von der Brücke aus nicht feststellen. Das von groben Balken getragene Dach versperrte die Sicht auf die Grünanlage, die sich auf einem steil ansteigenden Abhang ausbreitete. Wie im Erpresserbrief verlangt, wandte Norma sich hinter der Brücke nach links und marschierte auf einem Fußweg in den kleinen Park hinein. Sie schaute kurz zu einer oberen Terrasse hinauf. Der Schatten dort hinter den Sträuchern, das musste Tiri auf seinem Posten sein. Vermutlich wurde sie selbst von dem Erpresser beobachtet. Der Ort war für die Übergabe nicht schlecht gewählt. Norma sollte das Römertor überqueren, das Geld im zweiten Papierkorb verstecken und danach sofort umkehren. Ringsum standen Büsche, Bäume und Hecken. Der Erpresser konnte in einem Versteck abwarten, bis Norma das Geld abgelegt hatte, und sich die Beute holen, sobald sie wieder auf der Brücke war.
Sie ging am unteren Papierkorb vorbei und näherte sich dem zweiten Abfallkorb, der an der Kante einer kleinen Terrasse aufgestellt war. Die Anweisung lautete, das Geld in einem blauen Plastiksack verpackt unter den Müll zu schieben. Der Beutel war in der befohlenen Farbe, enthielt aber nicht mehr als einen Briefumschlag. Darin steckte ein Bogen mit einer einzigen Frage: ›Yesterday‹ lautete die Antwort, die nur Arthur wissen konnte. Die Antwort auf die Frage, welche Melodie der Commandante summte, als er ihr die Waffe an die Schläfe setzte, nachdem Arthur ihm die Fluchtpläne freiwillig offenbart hatte. Der Kolumbianer, den Norma für einen Psychopathen hielt, ließ seinem Zorn freien Lauf. Er drückte ab, und nur die Ladehemmung der Pistole rettete ihr Leben. Der Commandante sah darin eine Art Gottesurteil; jedenfalls ließ er sie danach in Ruhe. Norma konnte den Song seitdem nicht mehr hören.
Weiterhin war in dem Brief zu lesen, dass sie das Geld bereithalten und gemeinsam mit der richtigen Antwort die neuen Anweisungen zur Übergabe erwarten würde. Eine angemessene Reaktion auf die Forderung des Erpressers, rechtfertigte Norma sich später gegenüber Tiri. Sie hatten sich im ›Lumen‹ verabredet, einem Restaurant und Café in der Nähe des Rathauses. Die Terrasse lag oberhalb des Markkellers und grenzte an die Freifläche des Dernschen Geländes, auf dem vor 10 Tagen noch die Buden der Rheingauer Winzer gestanden hatten. Draußen waren die meisten Tische besetzt, aber Norma zog sowieso einen Platz drinnen auf der Galerie vor. Tiri kam eine halbe Stunde nach ihr. Sie hatte ihn von Weitem durch die hohen Glasfenster bemerkt. Mit zufriedener Miene führte er seine Jagdbeute im Display der Digitalkamera vor. In der Vergrößerung verschwamm das Gesicht der Frau. Erkennbar waren die aufgebogene Nase und der durch grellen Lippenstift entstellte Mund. Auf der Wange saß ein auffälliger Leberfleck. Augen und Stirn wurden von Sonnenbrille und Kopftuch verdeckt. Das Kinn versank im hoch geschlossenen Mantelkragen.
»Hat sie dich bestimmt nicht gesehen?«, fragte Norma.
In dem Punkt war er sich sicher. »Leider konnte ich ihr nicht folgen. Ein Taxi hat am Straßenrand auf sie gewartet.«
Der Kellner kam. Tiri winkte ab und stand auf. Er müsse in der Nacht
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