Weinzirl 02 - Funkensonntag
Er schien
nicht sonderlich verunsichert zu sein.
»Kann ich dann gehen?«, wollte er wissen, und Gerhard konnte nur
nicken.
Als Quirin gegangen war, riss Gerhard das Fenster auf. Er brauchte
Luft. Zum Atmen und Nachdenken. Die Funkenwache hatte nichts gesehen. Sie waren
seine Hoffnungsträger gewesen, denn andere Augenzeugen aufzutun, war überaus
unrealistisch. Gerhard war Realist. In dieser Nacht hätte man keinen Hund vor
die Tür gesetzt. Es hatte derart geschüttet.
Gerhard hatte keine fünf Minuten am Fenster gestanden, als der
Polizei-Pressesprecher in sein Büro kam.
»Das ist ein Tollhaus. Wir kriegen Anrufe aus ganz Deutschland und
aus Österreich. Da hat so ein Journalist von der Kronenzeitung nun gemutmaßt,
das Ganze hätte etwas mit einer okkulten Todessekte zu tun. Herr Weinzirl«, er
klang flehentlich, »haben Sie irgendeinen Hinweis auf so etwas?«
Gerhard starrte ihn an. »Todessekte? Ich bitte Sie, das ist doch
Nonsens! Und Ihnen muss ich das nicht erzählen. Wir haben die Leiche vor etwas
mehr als zwölf Stunden entdeckt. Es hat geregnet. Hunderte von Leuten sind da
rumgetrampelt. Die Spurensicherung hat nichts anzubieten. Was soll ich da schon
an konkreten Spuren haben?«
Als der Pressesprecher gegangen war – Gerhards Briefing war, die
Journalisten bis zur Pressekonferenz zu vertrösten –, sank Gerhard auf seinen
knarzigen Bürostuhl. Gut die Hälfte seiner vierundzwanzig Stunden war um. Er
traf sein Team zu einem kurzen Meeting, und das Wenige, was die Mitarbeiter
bisher über den Toten in Erfahrung hatten bringen können, verhieß ihm einen
langwierigen Fall. Die Ermittlergruppe war ziemlich ratlos, und Evi Straßgütl,
eine engagierte junge Frau in seinem Team, brachte es auf den Punkt: »Wieso
haben die denn so einen ermordet?«
Das fragte sich Gerhard auch, als er zu seiner Wohnung unter der
Burghalde heimfuhr. So einer! So ein netter Mann von nebenan.
Als Jo ins Büro kam, sah die Umgebung des Faxes aus, als hätte es
Papier-Brechdurchfall: Stornos von Gästen, die nicht im Funken landen wollten.
Auf dem AB war zweimal der
Bürgermeister, der sie für den Untergang des Tourismus’ in der Region
verantwortlich machte.
Jo starrte aus dem Fenster. Dann stand sie auf und ging in den
Nebenraum, schaute sich um, nestelte an ein paar Papierstapeln, lief zurück,
schenkte sich einen Kaffee ein und ließ die Tasse neben der Maschine stehen.
Gedankenverloren füllte sie Milch in eine andere Tasse und nahm diese mit zu
ihrem Tisch. Jo trank, schüttelte verblüfft den Kopf und stand wieder auf, um
die Kaffeetasse zu holen. Sie ging zurück zu ihrem Computer und schaltete ihn
versehentlich aus. »Scheiße«, sagte sie leise und stieß mit dem Arm an einen
ihrer legendären Papierstapel, und dank mangelhafter Bausubstanz und Statik
stürzte alles in den Papierkorb. Als Jo sich anschickte, die Papiere
aufzuklauben, verhedderte sie sich im Bürostuhl, der gegen den Tisch fuhr und
die Kaffeetasse erbeben ließ. Das Beben war so stark, dass sich der Kaffee über
die Tastatur ergoss.
»Scheiße«, sagte Jo nun lauter, »jetzt reiß dich doch mal zusammen!«
»Das hätte ich dir auch empfohlen«, kam es von der Tür. Andrea
lehnte im Türrahmen und grinste. »Schön, jemanden mit so viel
Körperbeherrschung wie dich beobachten zu dürfen.«
»Na, du hast mir gerade noch gefehlt. Tauchst einfach im Bergstätter
Hof auf und jetzt hier. Ja, habt ihr denn kein Telefon in Berlin?«
»Komm, jetzt spiel nicht die beleidigte Leberwurst. Ich hatte mich
ganz kurzfristig für den Workshop entschieden. Erst als sich noch einige andere
Termine im Allgäu ergeben haben, bin ich losgefahren. Ich wollte dich
überraschen. Dass du natürlich Schreiberlinge in meinem Seminarhotel
unterbringst … Und dann auch noch solche!«
Andrea hatte sich während des Redens aus einem Kaschmir-Schal
geschält und stand jetzt in einem Cordkostüm vor Jo. Sie sah wieder mal
ungeheuer gut aus. Wie sie das mit ihrem nicht gerade üppigen Gehalt schaffte,
war Jo rätselhaft, aber Andrea besaß so was wie den untrüglichen Modeinstinkt.
An ihr wirkte auch ein Rupfensack edel.
»Was heißt da ›auch noch solche‹?« Jo hatte beschlossen, noch ein
bisschen rumzugranteln.
Andrea lächelte über den Rand einer bronzefarbenen Brillenfassung
hinweg.
»Mit solchen Männern! Mit solchen Hamburger Schwaben oder
schwäbischen Hamburgern.«
Jo starrte Andrea an. »Was für ein Mann, wieso Schwabe? Red doch
keinen Schmarrn. Ich bin
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