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Weinzirl 02 - Funkensonntag

Weinzirl 02 - Funkensonntag

Titel: Weinzirl 02 - Funkensonntag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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müssen. Diese wüsten Spekulationen. Wildfremde Menschen
zerpflücken dein Leben, ohne dich zu kennen.« Frau Cavegn unterbrach sich und
sah ihre Schwester besorgt an.
    »Magst du nicht ins Bett gehen?«
    Und als diese nickte, begleitete sie Elvira hinaus, nicht ohne Jo
mit einer Handbewegung anzudeuten, dass sie bleiben möge. Sie kam nach wenigen
Minuten wieder. Jo war ganz auf die Kante des Stuhls gerutscht.
    »Ich will Sie nicht länger stören. Wie gesagt, das war eine
Schnapsidee.«
    Hermine sah sie prüfend an.
    »Ich würde mich freuen, wenn Sie noch einen Tee mit mir trinken. Und
mit Verlaub gesagt: Sie kommen mir auch ein wenig traurig vor. Trinken wir also
gegen die Traurigkeit an.« Sie schüttete einen ordentlichen Schuss Rum in die
beiden Tassen. »Sie sind ja nicht mit dem Auto da?«
    Jo schüttelte den Kopf. Sie kannte diese Frau seit wenigen Minuten,
aber sie hatte eine so wunderbare Art, die merkwürdigen Umstände zu ignorieren.
    »Ich bin froh, mal mit jemandem reden zu können. Der Schmerz meiner
Schwester geht mir so nahe. Und das Schlimmste ist, dass ich letztlich nichts
tun kann. Ich kann Adi nicht wieder lebendig machen. Er war ihr Leben. Dabei
verstehe ich sie so gut.«
    Jo schwieg.
    »Es ist, als ob sich die Geschichte wiederholt hätte. Ich habe
meinen Mann bei einem furchtbaren Unglück verloren.« Hermine Cavegn lächelte.
»Ich sage immer ›mein Mann‹, dabei haben wir nie geheiratet. Aber er war mein
Mann, mein Ein und Alles. Es dauert Jahre, bis man sich selbst im Leben wieder
einigermaßen verankert hat. Und das wurde mir von den Medien extra erschwert.
Immer wieder aufgekocht, umgerührt.«
    Jo machte ein fragendes Gesicht.
    »Erinnern Sie sich an den Katastrophenwinter 1999?«
    Jo spürte, dass Hermine Cavegn sich noch heute schwer tat, darüber
zu sprechen. Und Jo war ihrerseits froh, nun auch einmal einspringen zu können,
um eine lange Schweigepause zu überbrücken. Und so redete sie munter drauflos.
    »Ja, ich erinnere mich gut an das grenzenlose Verkehrschaos in
diesen Tagen. Die Zufahrtsstraßen waren blockiert. Da standen verfrorene,
übernächtigte Gestalten aus Norddeutschland bei uns im Büro. Die hatten in Lech
gebucht. Sie waren zehn Stunden in einem Stau gefangen gewesen, hatten
schließlich umdrehen können, aber kein Bett im Bregenzer Wald gefunden. Sie
hatten nur noch eins gewollt: schlafen, schlafen, schlafen. Wir hatten
überhaupt nichts frei. Ich weiß noch, dass Pensionen sogar kurzerhand die
Saunaliegen zurechtgemacht hatten.«
    Frau Cavegn nickte Jo dankbar zu, sie hatte sich wieder im Griff.
    »Ja, so hat es begonnen. Da war kurzzeitig so was wie Solidarität zu
spüren. Aber dann kippte die Stimmung. Diese Gäste hatten gebucht, die wollten
rein in ihre Orte – Schneechaos oder nicht, Lawinengefahr hin oder her.«
    »Oh ja, fragen Sie mich mal! Diejenigen, die ins Allgäu ausgewichen
waren, die haben uns die Bude eingerannt. Wir mussten uns anhören, dass wir
doch wenigstens die Winterwanderwege räumen sollten. Die erboste
Urlauber-Volksseele hatte dabei komplett ignoriert, dass Lawinen auch vor
Wanderwegen nicht Halt machen! Es würde doch alles gar nicht so gefährlich
aussehen, bekam ich zu hören, und ich hatte ungefähr tausendmal erklärt, dass
bei einem Meter Neuschnee im Tal drei Meter in Höhenlagen keine Seltenheit
sind. Da wollen diese Pappnasen bis Ostern Ski fahren und ignorieren
vollkommen, dass der Schnee irgendwann und irgendwoher halt kommen muss!«,
echauffierte sich Jo.
    Wieder stockte das Gespräch, und dann sagte Hermine Cavegn sehr
leise: »Und manchmal kommt zu viel Schnee. Viel zu viel Schnee. Mein Mann und
ich hatten Freunde in Galtür, wir waren damals zu Besuch, als der Schnee kam.«
    »Und dann kam die Lawine?« Jo hatte es noch im Ohr, als Frau Cavegn
gesagt hatte »wir hatten Freunde in Galtür.« Für einen Moment war es so leise,
dass man sogar den Uhrzeiger der Küchenuhr klacken hörte. Es schienen Minuten
zu vergehen, bis Hermine Cavegn weitersprach.
    »Es war ein Windgeräusch damals, das einem durch Mark und Bein ging.
Es war eine weiße Wand aus Schnee, und es wurde tagelang nicht richtig hell.
›Guxa‹ nennen die so einen Schneesturm in Galtür. Der Guxa dauerte mehrere
Tage, und dann kam die Lawine. Das Haus unserer Freunde war im Zentrum. Mein
Mann war drin, ich war gerade in einem der Wirler Hotels bei einer Bekannten,
die dort Urlaub gemacht hat. Ich fühle die Lawinensonde noch in den Fingern,
die Arme

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