Weinzirl 02 - Funkensonntag
immer kraftloser nach Stunden aussichtslosen Stocherns. Diese immer
schnelleren Wechsel von Hoffnung und Resignation, Wechsel zwischen Wut und
Selbstaufgabe und dem machtvollen Druck, doch jemanden finden zu müssen.
Einfach zu müssen! Ich wollte meinen Mann finden. Ich fühle noch heute diese
kurzen Attacken von Sekundenschlaf in einem halb von der Lawine zerstörten
Nachbarhaus. Wir haben in einer Küche vor Kälte, Nässe und Erschöpfung
gebibbert, in einer Küche, der einfach eine Wand fehlte. Wir saßen mitten in
einer klaffende Wunde, die Wundränder aus geborstenen Balken und Ziegeln. Am
zweiten Tag haben sie meinen Mann tot geborgen, dann die Freunde. Stunde um
Stunde wurde es mehr zur Gewissheit, dass wir nur noch Tote finden würden. Und
niemals werde ich den grauenvollsten Moment meines Lebens vergessen. Wir hatten
mit der Sonde einen Menschen aufgespürt, gebuddelt, mit nassen Handschuhen, mit
Schaufeln, mit Brettern und dann einen kleinen Junge entdeckt. Es war der Enkel
meiner Freunde. Ein totes Kind im Schlafanzug, die Stäbe des Gitterbettchens
zerborsten. Drei Jahre alt! Ein Teddy war neben ihm gelegen, und diese
Knopfaugen starren mich heute in meinen Alpträumen immer noch an und fragen:
Wieso hast du meinen Freund sterben lassen?«
Jo hatte Tränen in den Augen, versuchte sie hinunterzuschlucken,
blinzelte heftig, und die Tränen zogen doch Salzbahnen über ihr Gesicht.
»Wir waren genug gestraft. Ich werde nie wissen, warum uns der liebe
Herrgott so gestraft hat. Aber anstatt Zeit zum Trauern zu haben, kam der
Presseterror. Was die Medien daraus gemacht haben, war Wahnsinn. Das Unglück
von Galtür damals war unvermeidbar. Es war ein Zusammentreffen von Faktoren,
die der Mensch bei bestem Wissen und Gewissen nicht mehr unter Kontrolle halten
konnte. Wir haben am Ende nie eine Chance gegen die Natur, und das zumindest
ist gut so. Galtür ist eine Walsersiedlung aus dem 12. Jahrhundert, und von
diesem Bergvolk weiß man, dass es weit mehr über Lawinensicherheit wusste als
wir heutzutage. Über fünfhundert Jahre gab es keine Lawine im Ortszentrum. Aber
das hat die Medien überhaupt nicht interessiert«, sagte Frau Cavegn bitter.
Jo nickte.
»Mir müssen Sie das nicht erzählen! Aber das sahen die TV -Spezialisten ganz anders. Die hatten
Galtür sogar ökologischen Raubbau und das sinnlose Abholzen für Skipisten
vorgeworfen. Dabei liegt Galtür seit jeher über der Baumgrenze. Hier hat es nie
Schutzwald gegeben. Aber diesen Journalisten ist der Lebensraum Alpen völlig
fremd.«
Frau Cavegn lächelte Jo an.
»Mein liebes Kind, da haben Sie völlig Recht. Was den Medienrummel
betrifft, hat Galtür einfach Pech gehabt. Es war das Bauernopfer des
Ausnahme-Winters, denn die Lawinen anderswo interessierten niemand mehr. Dabei
gab es verheerende Katastrophen auch in Leukerbad, in Evolene, völlig ohne
Pressebegleitung im Val de Bagnes im Wallis, in Malbun in Liechtenstein oder im
Namloser Tal im Außerfern. Es gab sogar eine bei Ihnen im Allgäu im Walsertal.«
Sie unterbrach sich und sagte dann zögerlich.
»Vielleicht gibt es eine schicksalhafte Verkettung von Zufällen. Bei
der Lawine im Walsertal war Adi als Bergretter dabei. Ich weiß noch gut, wie er
sich aufgeregt hat, als der Vorzeige-Bergsteiger Reinhold Messner in einer ARD -Brennpunkt-Sendung als Experte saß
und erklärte, dass über zweitausend Metern außer ihm sowieso keiner etwas
verloren hätte. Aber Adi war natürlich selbst betroffen. Manche Dinge ziehen
weite Kreise, sehr spät noch. So …«, Frau Cavegn sah auf die Uhr, die
inzwischen fast zwei anzeigte, »nun gehen Sie ins Bett. Und, mein liebes Kind:
Schützen Sie die, die Sie lieben. Es kann alles so schnell vorbei sein! Und
lernen Sie beizeiten, allein zu sein. Ich habe keine Kinder. Uns war unsere
Zweisamkeit, waren unsere Reisen und unser Beruf genug. Mein Mann war das, was
man einen Star-Architekten nennt, und ich, nun ich bin immer noch
Innen-Architektin.« Sie lächelte und deutete auf ein Bild, das einen Mann mit
Bauhelm vor einem faszinierenden Gebäude aus Granit und Glas zeigte, einen sehr
attraktiver Mann, wie Jo fand.
»Ja, was ich sagen wollte. Eine Weile dachte ich mir, es sei
leichter, den Schmerz mit Kindern zu teilen. Jetzt bin ich mir nicht mehr so
sicher. Wenn ich sehe, wie hilflos ich bei meiner Schwester bin, wie sehr der
Schmerz lieber Menschen einem selbst wehtut, dann ist mir das so fast lieber.
Haben Sie Kinder?«
Jo schüttelte den
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