Weinzirl 02 - Funkensonntag
waren blutleer. Sie fühlte sich schwach, wie
nach einer langen Bettlägerigkeit, und hatte dumpfe Magenschmerzen.
Die Tür ging auf, und ein ganzer Tross von Ärzten und Schwestern kam
herein, und nur sehr allmählich begriff Jo, dass sie fünf Tage im künstlichen
Koma gelegen hatte. Dass ihre Schulterluxation ohne Komplikationen heilen
würde. Dass sie eine Heroinvergiftung gehabt hatte und die Unmengen von
Paspertin-Tropfen das Beste gewesen war, was sie hatte tun können. Man verlegte
Jo auf die normale Station. Sie hatte Glück, denn in ihrem Zimmer war nur ein
Bett belegt. Ihr war nicht nach Reden zumute, die vielen Telefonate strengten
sie schon genug an. Andrea, Gerhard, Patti und Marcel hatten angerufen, und
einmal war Hermine Cavegn dran. Sie redeten lange miteinander, und nach diesem
Gespräch war sich Jo sicher, dass sie erst einmal drei Monate unbezahlten
Urlaub nehmen würde. Vielleicht um Hermine Cavegn in Graubünden zu besuchen,
denn diese hatte beschlossen, mit ihrer Schwester heimzugehen.
»Zu den Wurzeln. Wenn man die Heimat im Herzen hat, wird man mutig,
aber nie übermütig«, sagte sie am Ende des Telefonats.
Jo sah aus dem Fenster und spürte die Intensität dieses Satzes. So
ging es ihr mit dem Allgäu. Die Allgäuer strahlten etwas Erdiges aus. Tiefe
Wurzeln, die Halt gaben – auch in stürmischen Zeiten. Wenn das Heimat war oder
auch nur ein Teil davon, dann war Jo froh, dazuzugehören. Zum ersten Mal fühlte
sie das ganz glasklar. Vielleicht würde sie ihre Mutter besuchen, zu der sie
seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Sie saß am Tisch in ihrem Zimmer und
nippte an ihrem Krankenhaus-Kamillentee. Sie hatte Kaffeeverbot, weil ihr Magen
noch nicht ganz in Ordnung war. Schluck für Schluck und ganz langsam zwang sie
das Gesöff in sich hinein. Sie schlurfte zu ihrem Waschbecken und wusch mit
einem Waschlappen ihr Gesicht – was einhändig gar nicht so einfach war. Aber
alles in allem fühlte sich Jo wie auferstanden nach einer sehr langen,
kräftezehrenden Krankheit.
Gerhard kam täglich zu Besuch, und auch wenn er es schon mehrfach
erzählt hatte, stellte Jo immer dieselben Fragen, und Gerhard antwortete. Ja,
im Glühwein war Heroin gewesen. Die Konzentration war nicht tödlich hoch
gewesen, aber eben so, dass man völlig neben der Spur ist. Ja, Heini kannte das
Terrain so gut, dass er und seine Kumpane Jo wirklich auf einen Felsvorsprung
zugetrieben und abstürzen lassen hatten. Und ja, die hätten sie da liegen
gelassen. Und leider, man hätte ihnen wahrscheinlich geglaubt. Erst nach
mehrmaligem Hören drang das alles in tiefere Bewusstseinsschichten vor.
Am Tag ihrer Entlassung war Jens am Telefon.
»Jo, ich habe von Patti gehört, dass du im Krankenhaus liegst. Was
ist denn passiert? Ich wollte mich erkundigen …«
»Danke, das ist lieb, du weißt ja: Unkraut vergeht nicht. Sei mir
nicht böse, das Reden strengt mich momentan ziemlich an. Das Denken erst recht.
Darüber nachzudenken, was passiert ist. Ich habe das selbst noch nicht ganz
begriffen. Ich rufe dich in den nächsten Tagen an. Wenn du magst.«
»Sicher! Erhol dich erst mal. Gute Besserung, und Jo, ich hätte
vielleicht …«
Jo unterbrach ihn. »Pass gut auf Jenny auf. Andere Väter haben das
nicht getan. Erwachsene fügen Kindern unendliches Leid zu. Deine Tochter hat
Glück, dass sie so einen tollen Vater hat. Man muss die schützen, die man
liebt.«
»Ich hätte was drum gegeben, dich schützen zu können«, sagte Jens
leise. Er schwieg kurz und fügte dann fast flüsternd hinzu: »Auch wenn ich dich
momentan nur durch gute Gedanken schützen kann.«
Jo lächelte zum ersten Mal seit Tagen, als sie auflegte.
Als Gerhard Jo aus dem Krankenhaus abholte, verriet sein Gesicht
Besorgnis.
»Irene Seegmüller will mit dir reden. Sie möchte dir wohl sagen, wie
Leid ihr das alles tut. Ich hab ihr gesagt, du musst das entscheiden.«
»Das arme Mädchen! Sie wird ihr ganzes weiteres Leben mit der Schuld
leben müssen, dass ihr Bruder und ihr Freund solch einen Plan geschmiedet
haben. Und mehr noch: Sie muss damit fertig werden, dass sie eventuell etwas
hätte verhindern können. Klar rede ich mit ihr. Hat sie selbst denn Strafe zu
befürchten?«
»Sie wird aussagen. Robert Bruckner ist ihr Anwalt, und er meint,
dass man sie eigentlich nicht wegen Beihilfe verurteilen kann.«
»Gut so, und wo ist sie?«
»In Eckarts, oben auf der Funkenwiese«, sagte Gerhard zweifelnd.
Jo verstand.
Schweigend fuhren sie
Weitere Kostenlose Bücher