Weinzirl 03 - Kuhhandel
das eh nie gut war, am Ende. ›Gaius et Julius
ambulant‹, damit haben die Schulbücher begonnen. So einfach, so nett, aber das
Lebenslatein ist so viel komplizierter. Wenn wir mehr über Lichteneggers Umfeld
wüssten, seine Radkumpels, vielleicht könnten wir daraus etwas ablesen. Aber
selbst wenn, das dauert alles viel zu lange.« Im Laufe ihrer Rede war auch ihre
Stimme von ruhiger Vernunft in Panik umgeschlagen.
Gerhards Blick war
abwesend, er wanderte unruhig durch den Raum, er schien durch Evi
hindurchzusehen. Dann murmelte er: »Wir machen ein Experiment. Das ist die
einzige Chance. Vertraust du mir?«
Evi nickte zögernd.
»Komm!«, sagte er.
Unterm Gehen begann er zu telefonieren. Er bestellte irgendwelche Leute ins
Rössle. Soweit Evi das verstand, waren es Jo und noch jemand.
Als sie im Rössle
ankamen, saßen dort schon Anni Fink, Jo, und soeben schoss ein Cabrio heran: Frau Weigand stellte sich vor und schenkte Evi ein herzliches Lachen. Sie
reichte Gerhard die lederbehandschuhte Hand. »Herr Weinzirl, Sie klangen sehr
dringend!«
Als sie sich
setzten, war es fast 17 Uhr. Niemand sprach, alle sahen Gerhard an. Die
Spannung war greifbar. Gerhard gab einen knappen Bericht der Lage. »Wir haben
gut vier Stunden Zeit, den Jungen zu finden. Ich befinde mich gedanklich in
einer Sackgasse. Evi geht es ähnlich. Ich bitte euch als Laien, ganz spontan
und dem ersten Gedanken folgend das zu notieren, was euch zu Lichtenegger
einfällt und wo ihr glaubt, dass der Junge ist. Jeder schreibt das auf einen
Zettel, keiner redet«, er verteilte weiße Blätter, »denn meiner Erfahrung nach
beeinflusst das Gehörte die eigene Wahrnehmung.«
Evi war die Erste,
die sich zu Wort meldete. »Hast du bei deinem Unfall nicht doch einen Teil
deines Verstandes eingebüßt? Was soll denn dieser Quatsch aus der weiten Welt
gruppendynamischer Sitzungen? Mit einer willkürlich zusammengewürfelten Gruppe.
Gerhard, das hier sind keine Profiler. Gerhard! Wir müssen einen mehrfachen
Mörder ziehen lassen. Ein junger Mann schwebt in Lebensgefahr. Das haben wir
dann zu verantworten. Er hat schon zwei Menschen umgebracht, wieso sollte er
bei Dominik zimperlich sein? Gerhard, wach auf!«
Jo sah zu Boden, und
dann hörte sie Frau Weigand sagen: »Diese Vorgehensweise ist so gut wie jede
andere. Wenn Sie keinerlei Anhaltspunkte haben? Wir sollten es versuchen. Wir
sind, glaube ich, gar keine so willkürlich zusammengewürfelte Truppe. Wir sind
gut.« So, wie sie das sagte, ließ es keine Widerrede zu, und so, wie sie es
sagte, machte es Mut.
Dennoch schaute Anni
Fink erst Frau Weigand, dann Gerhard voller Angst an. »Der arme Junge, ich kann
doch nicht die Verantwortung übernehmen. Ich …«
Gerhard sah sie
beruhigend an. »Lassen Sie sich nicht von irgendwelchen Fragen nach
Verantwortung leiten. Denken Sie nur über Lichtenegger nach. Nur! Die Verantwortung
übernehme ich ganz allein. Das geht auch an deine Adresse, Evi. Du bist auf
jeden Fall aus dem Schneider.«
»Gerhard, du gehst
ein brutales Risiko ein. Das ist doch völlig unwissenschaftlich. Das ist gegen
jede Regel der Polizeiarbeit!« Gerhards Blick ließ Evi verstummen.
Jo stand auf und
nahm ihren Zettel. Auf dem Weg zum Nebentisch sagte sie: »Wir haben keine Zeit.
Also los.« Sie war völlig auf ihre Aufgabe konzentriert. Frau Weigand warf Evi
einen aufmunternden Blick zu und begann zu schreiben.
Zwei Minuten später
saßen sie alle wieder am Tisch. Gerhard nickte Anni Fink zu. »Also, Herr
Kommissar, ehrlich, ich weiß nicht, ich bin doch bloß eine einfache Frau.«
»Bitte!«, sagte
Gerhard eindringlich.
Sie begann zu lesen: »Wieso hab ich den nicht öfter gesehen und nie richtig? Wahrscheinlich war er
viel öfter da. Er kam sicher von der anderen Seite von Salmas rauf bis zur
Stallebene und ist dann weiter zu Fuß gegangen. Er muss sich gut ausgekannt
haben da oben.«
Gerhard forderte nun
Frau Weigand auf, ihre Gedanken vorzulesen.
»Rennradfahrer
starren immer nur auf den Asphalt kurz vor ihrer Nase. Sie sehen die Natur
nicht, sie sehen nichts von den Schönheiten der Umgebung. Sie agieren wie auf
Schienen. Der Junge muss innerhalb der Schienen sein.«
»Und Jo?« Gerhard
hielt Jos Blick für einige Sekunden fest. Das gab ihm Kraft.
»Ein Verbrecher
kehrt immer zurück. In die Ruine oder auf die Alp«, hatte Jo geschrieben.
Sie alle überlegten.
Aus der Küche waren Geräusche zu vernehmen, irgendwo knarzte ein Holzboden. Ein
Telefon klingelte – sie
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