Weinzirl 04 - Gottesfurcht
interessiert. Er kannte Hügelgräber, die
bis heute noch kein Archäologe gefunden hat.«
»Die Kelten?«
Gerhards Stimme vibrierte.
»Ja, selbst auf dem
Gelände des Mütterheims hat er ein Keltengrab entdeckt. Er hat es ihr mal
gezeigt. Ja, er war sensitiv und intuitiv. Ich denke, er hat sie geliebt.
Unendlich.«
»Und er hat sie
nicht umgebracht?«, fragte Gerhard noch mal.
Sie schüttelte den
Kopf.
»Aber dann war es
Ihr Vater!« Gerhard war wütend, sein ganzer Körper war verspannt.
»Ich weiß es nicht,
wirklich nicht!«
»Wissen es nicht
oder wollen es nicht wissen?«
»Wir waren alle
nicht dabei. Nur Karli und mein Vater waren dabei. Es kann mein Vater gewesen
sein. Es kann ein Unfall gewesen sein. Nur Gott ist Zeuge.«
»Ja, und der lässt
uns bekanntlich gerne allein! Verdammt!«
Gerhard fragte nicht
weiter. Er wusste, was kommen würde. Dass sie als Mädchen nichts hatte tun
können, gegen Macht und Gewalt von Vater und Kirche. Er würde die Wahrheit
nicht erfahren, höchstens von Karl Laberbauer selbst, wenn er ihn denn fand. Er
musste ihn finden. Gerhard wurde zunehmend unruhiger, versuchte aber, die
Albrechts seine innere Anspannung nicht spüren zu lassen. Er kam auf das
Wesentliche zurück. »Und als Ihr Bruder entlassen wurde? 1967?«
»Er stand vor der
Tür. Abgemagert. Er war siebenundzwanzig und sah viel älter aus. Ich kam gerade
aus dem Stall, da stand er einfach so da. Er sagte nichts. Ich auch nicht. In
dem Moment trat der Vater vor die Tür. Er hatte den Vorderlader im Anschlag. Er
schoss vor Karli in den Boden. Karli drehte sich um. Ich dachte für eine
Sekunde, er würde ihm in den Rücken schießen. Karli ging einfach, die Sonne
versank gerade.«
»Hat er sich denn
noch mal gemeldet? Oder bei den anderen?«
»Ich weiß es nicht.
Nichts, was sich damals reimte, hat heute noch einen guten Klang. Ich habe
einen unserer Knechte nach Weilheim geschickt. Zu Hansl. Er kam wieder mit der
Botschaft, dass Hansl Karli nicht getroffen habe. Er habe sich nicht mehr
gemeldet.«
»Und Sie haben es
auf sich beruhen lassen?«
»Ich hatte genug zu
tun mit dem Hof. Vor allem, als der Vater gestorben ist.«
»Wann war das?«
»Auch 1967.«
»Nach der Entlassung
Ihres Bruders?«
»Ja, zwei Wochen
später.«
»Wie ist er ums
Leben gekommen?«
»Ins Hochsilo
gefallen. Damals gab es die noch.«
»Wenige Wochen nach
der Entlassung Ihres Bruders! Einfach so gefallen?« Gerhard war aufgesprungen.
»Ja!«, und auf
einmal wirkte sie kämpferisch. »Keiner hat bezweifelt, dass es ein Unfall war.
Es war ein Unfall. Mein Vater trank gerne mal ein paar Schnäpse zu viel. Es war
am Abend, er ist vom Anzinger gekommen. Tragisch!« Sie wechselte schnell das
Thema. »Ja, also Paul ist ab und zu noch aufgetaucht. In Berg. Ich habe ja erst
1970 den Hof verkauft. Als ich Matthias kennen gelernt habe. Da war ich
dreiunddreißig, eine alte Schachtel«.
»Eine wunderschöne
Schachtel. Eine Geschenkschachtel für mich!«, sagte Hias Albrecht lächelnd.
Nun drückte sie
seine Hand. »Ja, also der Paul. Er berlinerte wieder sehr stark. Er war auch
noch ein paarmal in Seeshaupt. Geschäftlich, wie er sagte. Er hat uns sogar mal
eingeladen, aber ich habe abgesagt. Ich war froh, dass das Buch Oberhausen
geschlossen war. Mit all den Kapiteln darin. Auch den fröhlichen, aber das
waren gar nicht so viele.«
Gerhards ganzer
Körper war verspannt. Es war ihm, als stünden alle Körperhärchen senkrecht.
»Ein geschlossenes Buch, aha. Und das Kapitel über Ihren Bruder? Ist das auch
geschlossen? Wo ist Ihr Bruder jetzt?«
»Ich weiß es nicht.
Ich habe ihn seit jenem Tage, als Vater ihn hinausgeworfen hat, nicht mehr gesehen.«
Gab es so etwas? Wie
hatte Evi gesagt? Das war doch alles damals nicht normal! Konnte man wirklich
den geliebten Bruder einfach so streichen aus den Annalen, begraben, lebendig
begraben?
Gerhard
verabschiedete sich und stieg in seinen Bus. Er fuhr einfach geradeaus, auf dem
schmalen Sträßchen hinein in einen Wald, der gesäumt war von mageren Fichten.
Seine Gedanken fuhren Karussell: eines dieser modernen Exemplare, die einen in
die Höhe katapultieren und wieder fallen lassen und verwirbeln. Die Raunächte
sind ja auch eine Zeit der Wiederkehr, Tote tauchen wieder auf – oft in einer
andern Gestalt. Das hatte Kassandra gesagt. Und er hatte geantwortet: ›Wiederkehr? Mein Mörder ist also ein Untoter, ein Zombie, der die drei Männer
heimgesucht hat?‹ Was, wenn sein Untoter Karl
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