Weinzirl 04 - Gottesfurcht
heutige Kinder. Wir waren wirklich nur Larven in den Augen der
Erwachsenen. Uns wurde Denken und Fühlen abgesprochen. Wir hatten ja Glück,
Grund zu haben und immer genug zu essen. Die Maxlrieder, die Fuizbuam, die
hatten damit zu tun, jeden Tag ihren Hunger zu stillen. Da war wenig Zeit für
philosophische Gedanken, fürs Aufbegehren.«
»Aber Ihr Bruder hat
aufbegehrt?«
»Ja, aber sein
vergleichsweise gutes Leben hat ihm Raum dazu gelassen. Und das hat den Pfarrer
so provoziert. Er sah eine Welt auf sich zukommen, die sich nicht mehr mit
Macht und körperlicher und seelischer Gewalt unterjochen ließ. Mein Bruder war
ein erster Vertreter. Trotzig und mutig. Solche Kinder würden heranwachsen,
seine Welt würde zerbrechen. Er hat ihn gehasst, mehr noch das, was er
verkörpert hat.«
»Diese Macht der Kirche,
dieser Machtmissbrauch …« Gerhards Worte verklangen. Er rang um Formulierungen
und fand doch keine Worte. Er war eine andere Generation, aber auch er hatte
irgendwo in seiner Seele noch die Erinnerung an das Gefühl, wenn es zum
Beichten ging. Dieses Unwohlsein, das die Kehle überflutet hatte, das
Sprechblockaden im Angesicht des Pfarrers hervorgerufen hatte. Obwohl seine
Eltern alles andere als bigott gewesen waren. Seine Mutter hatte ihn eher immer
ermuntert: »Beicht halt irgendeabbas, damit gredt isch.« Trotzdem, das Gefühl
war da. Die Kühle des Rosenkranzes in seinen Händen. Der Geruch nach Weihrauch.
Die Dunkelheit. Das Flackern der Kerzen. Verführerisch und bedrohlich zugleich.
»Nicht der Kirche!
Einzelner! Was soll eine Kirche denn sein? Ein schlingerndes Boot? Sie braucht
klare Werte, auch wenn das manchen zu reaktionär ist. Wenn alles relativ und
das Ego der einzige Maßstab ist, wo finden wir dann noch Halt?«
Gerhard war
versucht, eine hitzige Diskussion zu beginnen, aber er hielt inne. Hatte sie
nicht Recht? Was wäre das für eine Kirche, wenn sie nicht Regeln aufstellen
würde? Strenge Regeln. Ein Korsett gab eben auch Halt. Es stützte.
»Als er verurteilt
war, was haben Ihre Eltern gemacht?«
»Bei uns gab es ihn
nicht mehr. Mein Vater sagte nur einmal: Dieser ist nicht mein Sohn. Es war
klar, dass wir keine Widerworte zu geben hatten.«
»Aber Ihre Mutter?«
»Sie starb im
Frühjahr 1958.« Mehr sagte sie nicht. Mehr wollte Gerhard auch nicht wissen.
»Und die Freunde?
Johann Draxl, der war doch ein gewitzter Junge, nehme ich an. Hat er das so
hingenommen?«
»Nein, er hat auch
versucht, Karli in der Anstalt zu schreiben. Die Briefe kamen alle retour. Aber
selbst ein Hansl wurde zermürbt. Der Pfarrer hat die Auftritte des Viergesangs,
der nun ja ein Dreigesang war, verboten. Er nannte sie Mörderbande. Ich glaube,
Hansl hätte weitergekämpft. Aber dann starb sein kleiner Bruder Hermann. Auch
im Frühjahr ‘58, an Diphtherie. Agi, seine Mutter wäre fast daran zerbrochen.
Hansl hatte andere Sorgen. Ich auch, auch wir trafen uns nicht mehr. Und Paul
war inzwischen in Berlin und Schorschi in Oberammergau. Schorschi hat 1962
geheiratet, das habe ich erfahren, aber da lebte er schon in einer anderen
Welt. Hansl war in Weilheim, er hat ‘63 geheiratet, auch das habe ich nur aus
der Zeitung erfahren.«
Erneut spürte
Gerhard, welche Tragödie da das Leben junger Menschen durchkreuzt hatte. Was
Anna Albrecht da so emotionslos berichtete, war der Zusammenbruch eines
Gefüges, das so überschaubar gewesen war. Nicht immer leicht, aber voller
Klarheit, voller klarer Grenzen. Es war klar, dass ein Mädchen standesgemäß zu
heiraten hatte, die reichen, schlitzohrigen Bauerngeschlechter den Wohlstand
vermehrten und die im Sumpf, im Moos, im Fuiz, froh zu sein hatten, dass es
ausreichend Essen gab. Sie hatten die Regeln verletzt, sie hatten die Grenzen
überschritten, ohne zu wissen, dass im Niemandsland dahinter Gefahren lauerten,
die sie nicht mal erahnen konnten.
»Frau Albrecht,
damit ich ein besseres Bild von Ihrem Bruder bekomme: Er war also ein Trotzkopf
und Revoluzzer auf der einen Seite und extrem sensitiv auf der anderen?«
»Ja. Ist das nicht
oft so? Großen inneren Schmerz und große Leidenschaft empfinden nur feinfühlige
Menschen. Was sie dann für Filter dazwischenschalten und was dann an der
Oberfläche ankommt, ist eine ganz andere Sache. Karl war seiner Zeit voraus.
Ich glaube sogar, dass er so was wie das zweite Gesicht hatte. Er besaß
Intuition, er war mystischen Dingen und Zeremonien sehr aufgeschlossen. Er hat
sich als Bub unheimlich für die Kelten
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