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Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Titel: Weinzirl 04 - Gottesfurcht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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Ende der Siebziger jung gewesen,
nicht in den fünfziger Jahren. Endlich löste Gerhard den Blick vom Foto und sah
Frau Albrecht an.
    »Glauben Sie, dass
Ihr Bruder sie umgebracht hat?
    »Nein!«
    »Sie sagen das mit
solcher Gewissheit.«
    »Er hat sie geliebt.
Er hat sie unendlich geliebt, so wie man nur einmal im Leben liebt.«
    »Wenn Sie so sicher
sind: Wieso haben Sie nie Partei für Ihren Bruder ergriffen?«
    »Ich war ein
Mädchen, weniger als nichts. Das Larvenstadium nie verlassen. Es gibt ein Pech
im Leben, als Mädchen geboren zu sein.«
    »Aber Sie waren
nicht immer ein Mädchen. Sie waren und sind eine erwachsene Frau.«
    Gerhard war wütend.
Wieso spannen alle Menschen immer an der Legende, dass sie nichts hätten tun
können? Wir waren nie Täter, immer nur Opfer. Tausend Gründe für das Verharren.
Familie, Gesellschaft, schlechte Bedingungen, Krankheit, und heutzutage, wo die
Determination durch die Gene wieder so »in« war, hatte Gerhard manchmal das
Gefühl, dass seine Umgebung einfach fatalistisch mit den Schultern zuckte. Ich
kann nicht anders. Er dachte an Jo. Sie hatte nie eingewilligt. Würde es nie
tun, jetzt nicht und in Zukunft. In Jos Leben kam Mittelmäßigkeit nicht vor. Er
hatte ihr das vorgeworfen. Das war falsch gewesen, so falsch. Plötzlich
überflutete ihn eine Welle der Sehnsucht. Bring back the good old days .
Er hatte Sehnsucht nach Jo, nach dem einfachen Leben in Kempten. Schule, cool
sein, Nest, Willofs, Oberwang, Pegasus, noch cooler sein. Jo immer mittendrin,
nie mittelmäßig. Immer die Königin der Nacht. Er rappelte sich auf aus seinen
Gedanken.
    »Warum haben Sie
nichts unternommen?«, fragte er noch mal.
    »Warten Sie, Herr
Weinzirl, Sie sind noch jung. Ihre Wut ist die Wut der Jugend. Warten Sie, bis
Sie so alt sind wie ich. Und dann blicken Sie zurück. Wie viele Meinungen haben
Sie kennen gelernt? Wie vielen falschen Ratgebern haben Sie zugehört? Wie
vielen richtigen? Und konnten Sie das überhaupt unterscheiden? Erst in der
Rückschau können wir Bilanz ziehen. Wie oft wurde alles auf den Kopf gestellt,
an was Sie einmal fest geglaubt haben? Durch wie viele Stürme haben Sie Ihr
Boot manövriert, und wie oft hing das Überleben von etwas ab, an das sie vor
dem Sturm nicht mal gedacht haben? Glauben Sie nicht, dass ich mir keine
Vorwürfe mache! Jeden Tag meines Lebens. Ich sage heute nicht, ich konnte nicht
anders. Ich hätte anders gekonnt mit meinem Wissen von heute. Aber das hatte
ich nicht.«
    Sie saß wieder neben
ihrem Mann, der erneut ihre Hand ergriffen hatte. »Und dann war da der Herr
Pfarrer, der sogar von der Kanzel predigte, was für eine Schlange wir da im
Dorf an unserer Brust genährt haben. Er hat unsere Familie öffentlich
angeprangert. Und genauso öffentlich hat sich mein Vater von Karl distanziert.«
    »Hat er denn nicht
Partei für seinen Sohn ergriffen?«
    Sie gab ein
Schnauben von sich. Angewidert. »Er stand nie hinter uns. Wir haben nie etwas
richtig gemacht. Vater hat gesagt, er sei Karli und Magda gefolgt. Er hätte
geahnt, dass Karli einen Bastard zu verantworten habe. Er sei ihnen gefolgt,
bis auf den Gipfel, und Karli habe sie hinuntergestoßen. Er hätte noch
versucht, ihn zu hindern. Aber er sei zu spät gekommen. Wieder und wieder hat
er es erzählt. Am Ende habe ich es geglaubt. Er hat dem Pfarrer großzügige
Spenden zukommen lassen, und schließlich hat der Pfarrer wieder von der Kanzel
gepredigt. Dass wir nichts für den Verderbten in unserer Mitte könnten. Dass
wir Buße getan hätten und das Dorf uns wieder aufnehmen möge.«
    »Aber warum hatte
der Pfarrer solche Macht?«
    »Er war der
Pfarrer.« Sie sah Gerhard überrascht an. »Er war der Pfarrer!«, wiederholte
sie. »Gottes Vertreter auf Erden! Es war 1957. Der Pfarrer und der Doktor, die
hatten etwas zu sagen. Und der Vater. Er war der reiche Laberbauer. Der Pfarrer
hat das sehr wohl gewusst und ausgenutzt. Meine Mutter hat das Spiel nie
durchschaut. Sie war der Meinung, dass die Anwesenheit des Pfarrers in unserem
Haus sie gleichsam heiliger macht.«
    »Aber wäre es nicht
die Aufgabe des Pfarrers gewesen, seinem Schäfchen zu helfen? Dem armen Karli
in seiner Verirrung die Hand zu reichen? Es gibt Protokolle vom Prozess. Den
Ausschlag für die harte Strafe hat der Pfarrer gegeben.«
    »Er war ein
schwacher Mann, voller Selbsthass. Es ist ja nicht gesagt, dass ein Mann Gottes
ein gütiger, kluger Mann sein muss. Wir waren Kinder. Ängstliche Kinder. Andere
Kinder als

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