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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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geben bereit war, dann würde sie diese hübsche Geschichte über Nacht beenden. Sie würde ihn auch nie heiraten, nie mit ihm zusammenziehen, selbst dann nicht, wenn er sich von seiner Frau scheiden lassen oder aus anderen Gründen plötzlich ungebunden sein sollte. Nur nicht zu viel Nähe, meinte sie, das habe sie hinter sich, das wolle sie nicht noch einmal. Und falls ihr generöser Professor ein Pflegefall werden sollte, er war immerhin zwanzig Jahre älter als sie, dann wäre es ganz bestimmt nicht sie, die seinen Rollstuhl schiebt. Ein Segelboot, eine Reise nach Venedig oder Paris, das seien amüsante Dinge, aber daraus ergeben sich keinerlei Verpflichtungen, sagte sie zu ihm und kicherte fröhlich.
    Stolzenburg unterhielt sich häufig mit ihr. Er hatte sie gern, sie wirkte sehr anziehend auf ihn, und einmal, das war Jahre her, hatte er die sonnengebräunte Schönheit umworben. Sie waren zusammen essen gegangen, es wurde ein anregender Abend, aber sie hatte ihm sehr deutlich einen Korb gegeben.
    »Keine so gute Idee, Rüdiger«, hatte sie gesagt, »am selben Institut zu arbeiten und dann ein Verhältnis, das ist schlimmer als Ehe. Und außerdem hast du kein Segelboot.«
    Dann hatte sie ihr Glas hochgehoben und sich ausgeschüttet vor Lachen.
    Er war nicht gekränkt, er verstand sie. Ihre Haltung gefiel ihm sogar, sie entsprach seinen eigenen Auffassungen. Was denn sonst waren Beziehungen? Ein paarFreundlichkeiten, ein angenehmes Beisammensein, etwas Sex, Nähe auf Verlangen und stets ein Anrecht auf ausreichende Distanz. Und dieses Letztere, der Freiraum, war der alles entscheidende Knackpunkt einer Beziehung. Man wurde nicht zu einem Leib und einer Seele, das waren Kinderträume, die zu Katastrophen führen mussten. Eine Beziehung ist eine Freundschaft mit Bettlaken, nicht mehr, allerdings auch nicht weniger. Die Poeten und die Pfaffen haben sie mit einem Mythos umgeben, sie zu etwas Überirdischem verklärt, was das Ganze unbeweglich machte und schwerer zu handhaben als nötig. Und der Staat sah da seine Chance, in das lockere, brüchige Gefüge einer mehr oder weniger zufälligen Gemeinschaft von Menschen, einer sogenannten Nation, eine tragfähige Stabilität zu bringen. Ein gemeinsam bewohntes Territorium ist für eine Menschenansammlung keine ausreichende Fessel, um sie in Staatsabgaben, Kriegsdienste und lokale oder gar nationale Verpflichtungen einzubinden. Ehe und Familie dagegen, so privat und winzig sie erscheinen, sind der Nukleus, um Gemeinschaften zu festigen, Gesellschaften zu gründen, Staaten zu stabilisieren und zu verteidigen. So haben die Staatstheoretiker sehr bald und weltweit begriffen und durchgesetzt, dass eine stabile Beziehung zwischen zwei Individuen den Staat überlebensfähig macht, wenn diese Beziehung ausreichend umhegt, gefördert, begünstigt wird. Und was mit einem Kuss begann, mit einer ersten gemeinsamen Nacht, wird unter dem Druck der staatlich geregelten Moral und den kleinen Vorzügen und Vorteilen, von Zuwendungen und Begünstigungen zur Ehe zementiert. Zwei Menschen, die sich gern haben, die sich berühren undmiteinander schlafen, die gemeinsam einen Alltag bestehen und überstehen wollen, werden, um einen Staat zu etablieren, genötigt und verführt, einen Gesellschaftsvertrag einzugehen, der in seiner Gültigkeit und seinen drakonischen Folgen bei Vertragsverletzung die bürgerliche Existenz massiv einschränkt und bedroht und den Strafen des Kriminalgesetzbuches kaum nachsteht. Der Krieg braucht den Familienvater, der zusätzlich zu seinem eigenen Leben den Staat verteidigen soll, und der fast unscheinbare Gesellschaftsvertrag Ehe macht es möglich. Eine Falle mit dem Lockmittel Lust, Sex als treibende Kraft nutzend, so verschafft sich der Staat die Voraussetzungen seiner Existenz. Mit Singles, mit einer Horde weiblicher und männlicher Junggesellen, ist keine Gesellschaft zu errichten und zu verteidigen, ist kein Staat zu machen. Sie sorgen lediglich für sich selbst, schützen sich und ihr Eigentum und sind für darüber hinausgehende Verpflichtungen und Gefühle, für Familie und Vaterland, schwerlich zu gewinnen.
    Marion hatte ihm einen Korb gegeben, und er verstand sie. Sie hatte eine Beziehung, die für sie ausreichend war und auch ausreichend luxuriös. Sie hatte genügend Freiraum und war vor dummen Überraschungen geschützt, denn ihr Orthopäde war beschäftigt und durch Beruf und Ehefrau daran gehindert, über das geregelte und abgesprochene Beisammensein

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