Weiskerns Nachlass
sie endlich angezogen sind und zu ihm kommen, um sich zu verabschieden. Dann begleitet er sie zur Wohnungstür, häufiger bis zur Haustür, und seufzt erleichtert, wenn hinter ihnen die Tür ins Schloss fällt. Allein zu sein, das ist für ihn lebensnotwendig. Zu viel Nähe verträgt er nicht.
Vor Jahrzehnten war das noch anders. Es hatte Jahre gegeben, wo er nicht einen einzigen Tag allein war. Wo er unruhig wurde, wenn nicht jemand in seiner Wohnung war. Er brauchte die Anwesenheit eines anderen Menschen, einer Frau, er fühlte sich geborgen, wenn er wusste, eine Frau, eine Freundin ist im benachbarten Zimmer, wenn in seiner Wohnung jemand atmete, sich bewegte, lebte. Manchmal verließ er sein Arbeitszimmer, um sie zu umarmen oder auch nur anzulächeln, er ging zu ihr, um ein anderes Leben zu sehen, zu erleben, um sich seiner eigenen Anwesenheit zu versichern. Aber das ist lange her, das ist vorbei. Nun scheut er jede Störung, fühlt sich durch die bloße Anwesenheit einer anderen Person belästigt, verspürt ein Unbehagen, wenn ein anderer Mensch in seiner Wohnung sich aufhält, undsei dieser andere auch mucksmäuschenstill, sei es selbst eine Partnerin, mit der er vor wenigen Stunden intim und glücklich zusammen war. Etwas hat sich verändert, er hat sich verändert, aber er ist nicht gewillt, dagegen anzukämpfen. Vielleicht ist es das Alter, eine präsenile Griesgrämigkeit, wie er es selbstironisch registriert, der wachsende Überdruss, die allzu große Müdigkeit nach den vielen schlafarmen Nächten, die ihn seit ein paar Jahren behelligen. Er weiß es nicht, es ist ihm gleichgültig, er will keine Rücksichten mehr nehmen.
Der Abend mit Patrizia bleibt freundlich. Sie beklagt sich nicht über ihn, verzichtet auf ihre kleinen Spitzen, ist heiter und liebevoll. Irgendwann sagt er ihr, dass sie ein nettes Mädchen sei, doch als sie ihn fragt, ob er sie liebe, lächelt er.
»Große Worte«, sagt er, als sie die Frage wiederholt, »viel zu große Worte. Warum bin ich denn sonst mit dir zusammen, Patrizia? Ich habe dich gern. Wirklich. Sehr gern.«
»Du schläfst gern mit mir. Das macht dir Spaß, aber du liebst mich nicht.«
»Und was ist das, Liebe? Was stellst du dir darunter vor?«
»Dass man mit jemanden zusammen sein will, immerfort, Tag und Nacht. Dass man ohne den anderen nicht leben kann.«
»Tag und Nacht? Nein, das kann ich nicht. Wenn das deine Definition von Liebe ist, dann habe ich noch nie geliebt. Ich bin gern allein und vermisse dann gar nichts. Ich bin sehr gern allein. Ich brauche die Einsamkeit. Ich genieße sie.«
»Ich weiß.«
»Nur wenn ich allein bin, kann ich nachdenken, arbeiten. Dann bin ich ganz bei mir.«
»Und ich bin nur bei mir, wenn ich bei dir bin. Wenn ich allein bin, fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich brauche dich, aber du brauchst mich nicht.«
»Und das heißt für dich, dass ich dich nicht liebe?«
»Manchmal denke ich das. Wenn du mich gar nicht sehen willst. Mich nie anrufst.«
»Komm, Patrizia, trink aus, wir gehen ins Bett.«
Sieben
Klemens Gaede ruft zwei Tage später an. Er hat mit dem Finanzamt telefoniert, aber nichts erreicht, keine Minderung, keinen Aufschub. Er schlägt vor, sich einen gemeinsamen Termin mit dem zuständigen Sachbearbeiter geben zu lassen. Ein persönliches Gespräch könne gelegentlich Wunder bewirken, meint er. Er werde selbst im Finanzamt um den Termin bitten und will von Stolzenburg wissen, welche Tage, welche Uhrzeit ihm recht seien. Er verspricht, sich umgehend zu melden. Kurz danach ruft er wieder an, er hat mit Herrn Kerzer, so der Name des zuständigen Sachbearbeiters, für den nächsten Vormittag ein Treffen vereinbart und bittet Stolzenburg, zwei Stunden zuvor bei ihm vorbeizukommen und seine Steuererklärungen mitzubringen.
»Die Steuererklärung vom letzten Jahr?«
»Am besten die der letzten zehn Jahre. Bringen Sie mit, was Sie an Papierkram vom Amt haben. Ich sehe es mir an, vielleicht finden wir etwas, was uns weiterhilft.«
Sie verabreden sich für neun Uhr, und Gaede nennt ihm seine Adresse, er wohnt in der Nähe des Kanals, Stolzenburg kennt die alte Straße.
Am Abend holt Stolzenburg die beiden Ordner aus dem Schrank, auf deren Rücken mit breitem Filzstift Steuer steht, und packt sie in seine Fahrradtasche. Er ist erleichtert, dass sich jemand seiner misslichen Geschichte annimmt, jemand, der nicht gleich Kopfschmerzenbekommt, wenn ein Schreiben des Finanzamtes in seinem Briefkasten liegt, und der es
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