Weiskerns Nachlass
am liebsten vor die Tür setzen möchte.
Unkonzentriert und fahrig übersteht er die zwei Stunden. Diesmal glänzt er nicht, und es gibt auch keine Apercus von ihm, mit denen er sonst den Unterricht zur Freude der Studenten würzt. Er beendet das Seminar auf die Minute, verlässt rasch das Institut, um nicht aufgehalten zu werden, und fährt heim.
Auf dem Anrufbeantworter hat er eine Nachricht von Marion. Sie teilte ihm mit, sie habe mit ihrem Cousin gesprochen und er erwarte seinen Anruf. Sie nannte dessen Telefonnummer und wünschte ihm Glück. Er hört sich ihre Mitteilung nochmals an und notiert sich die Nummer. Die wählt er sofort, aber es meldet sich nur der Automat, und er legt wortlos den Hörer auf. Eine halbe Stunde später versucht er es nochmals, dann zwingt er sich, eine Stunde zu warten, bevor er zum dritten Mal den Steuerberater anruft. Kurz nach sieben erreicht er ihn. Klemens Gaede, Marions Cousin, hört sich geduldig an, was ihm Stolzenburg zu sagen hat, dann erklärt er gelassen, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen und Stolzenburg möge ihm den unverschämten Brief des Finanzamtes zusenden. Er sei sich sicher, dass man verhandeln könne, dass man verhandeln müsse. Als Stolzenburg ihn fragt, was seine Hilfe kosten werde, lacht Gaede wohlwollend und sagt, er sei doch ein guter Freund seiner Cousine, da werde er nicht gleich mit einer Rechnung kommen.
Das Telefonat beruhigt Stolzenburg. Er ist erleichtert, auch wenn er weiß, dass die Forderung nach wie vor besteht und er allenfalls hoffen kann, mit der Hilfe von Gaede die Summe herunterzuhandeln oder die Zahlungsfrist zu strecken. Er hat das Gefühl, ein Fachmann habe sich seines Problems angenommen und werde auf irgendeine raffinierte Art seine Zahlungsunfähigkeit abwenden oder den Anspruch der Finanzbehörde zurückweisen. Ein Kinderglaube, wie er ahnt, das uralte kindliche Vertrauen in die Kraft und alles übersteigenden Fähigkeiten der Eltern, der Erwachsenen, die in jeder ausweglosen Situation leicht und schnell die Rettung erkannten und ihm halfen. Er spürt, dass ihm das Gespräch geholfen hat. Er vertraut diesem Klemens Gaede, den er nie gesehen hat, weil der ihn ermunterte, ihm zugehört hatte, sein Problem ernst nahm. Er fühlt sich von ihm ermutigt, bestärkt, getröstet. Wie damals. Wie in der Kindheit.
Er atmet tief durch und entschließt sich, nicht mehr an jenen Brief zu denken, sondern sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er kopiert die Seiten des Briefes, und steckt sie mit einem weiteren Bogen, auf dem er sich bei Gaede für dessen Bereitschaft und die angekündigte Hilfe bedankt, in ein Kuvert. Er nimmt sich den Landauer vor und versucht ein paar Seiten zu lesen, doch er ist mit den Gedanken ganz woanders. Er ruft Patrizia an, hört sich ihre Vorwürfe an und bestätigt ihr mehrmals, dass sie recht habe, dass er nicht aufmerksam genug sei und sich zu wenig um sie kümmere, und dann fragt er sie, ob sie sich heute sehen können.
»Na, du traust dir ja was«, entgegnet sie schnippisch, und da er sekundenlang nichts sagt, fügt sie rasch hinzu: »Und wo? Bei dir oder bei mir?«
»Komm zu mir. Kannst du in einer Stunde hier sein? Dann fahre ich jetzt los und besorge uns etwas. Bei mir um die Ecke hat ein Sushi-Laden aufgemacht.«
»Roher Fisch? So was esse ich nicht.«
»Hast du es mal probiert?«
»Das ist eklig.«
»Gut, dann gibt es ein Stück Fleisch. Rind und Rotwein, das passt. Einverstanden?«
»Hast du denn wirklich Zeit für mich oder hast du nur ein schlechtes Gewissen? Wofür du natürlich allen Grund hast.«
»Ist ja gut, Patrizia. Komm zu mir und lass deine schlechte Laune zu Hause.«
Auf dem Weg zum Supermarkt fährt er an der Hauptpost vorbei und wirft sein Schreiben mit den Kopien für Klemens Gaede in einen Briefkasten mit Nachtleerung.
Pünktlich eine Stunde nach ihrem Telefonat steht Patrizia vor seiner Tür. Entzückt nimmt sie den Bratengeruch wahr, lobt den gedeckten Tisch und küsst ihn leidenschaftlich. Ihr Ärger scheint verflogen, über sein tagelanges Schweigen verliert sie kein Wort, die eben noch vorgebrachten Vorwürfe scheinen vergessen zu sein, sie ist wie ausgewechselt. Er ist es zufrieden, lobt ihr Kleid, streift es hoch und streichelt ihren Oberschenkel.
»Komm«, sagt er, »setz dich auf den Balkon. Der Wein ist entkorkt, du kannst ihn eingießen, er braucht etwas Luft. Und leg eine CD ein, such dir raus, was dir gefällt. Ich bin mit dem Essen in fünf Minuten fertig,
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