Weiskerns Nachlass
ich vermutlich nicht einmal die achte Klasse geschafft. Ich bin mit zwölf von zu Hause abgehauen, weil mein Alter unerträglich war. Hab auf der Straße gelebt, in Gartenhäuschen der Laubenpieper, auf Dachböden. Marion war die Einzige inder Familie, die mich vermisste. Sie hat nach mir die Stadt und die Stadtränder abgeklappert, danach durfte ich bei ihr wohnen, sie hat mich wieder zur Schule geschickt. Sogar das Abitur habe ich gemacht, weil sie es so wollte, weil sie es verlangte. Und wenn sie zu mir sagt, da gibt es jemanden, einen Freund von mir, der hat ein Problem, das du vielleicht lösen kannst, dann nehme ich mich der Sache an, weil ich ihr viel verdanke. So, und nun zeigen Sie mir, was Sie mitgebracht haben.«
Gaede sieht die beiden Ordner durch. Er blättert Blatt für Blatt um, scheint jedes mit einem einzigen Blick zu erfassen und klebt kleine farbige Haftmarker an einige Seiten. In einer Stunde hat er schweigend und konzentriert den Papierwust durchgearbeitet und sich zweimal Notizen gemacht.
»Haben Sie etwas gefunden? Etwas, was uns nützt?«
»Sie haben in den ganzen Jahren zu viel Steuern bezahlt, das ist schon einmal sicher. Was man von der Steuer alles absetzen kann, das wissen Sie nicht, oder?«
»Nein, und es langweilt mich, wenn ich mich damit beschäftigen soll.«
»Es langweilt Sie, sehr schön. Das können Sie sich noch nicht einmal als Millionär leisten, und schon gar nicht bei dem, was Sie verdienen. Und, ehrlich gesagt, wenn das, was Sie hier dem Finanzamt als Einnahmen angeben, alles ist, was Sie in diesen zehn Jahren verdient haben, ist mir unerklärlich, wovon Sie leben. Sie haben studiert, sind, wenn ich Marion richtig verstanden habe, so etwas wie ein Professor, und Sie haben ein Gehalt, das kein Automechaniker akzeptieren würde. Ich glaube, mein Postbote bekommt mehr als Sie.«
Gaede sagt das freundlich, er will Stolzenburg nicht kränken, doch er ist tatsächlich überrascht.
»Die Gesellschaft braucht Postboten. Germanisten und Theaterwissenschaftler werden nicht benötigt, also bezahlt man sie schlecht. So einfach ist das. Wenn ich als Wissenschaftler arbeiten will, muss ich halt das Minigehalt akzeptieren.«
»Genau wie Marion. Ich verstehe nicht, warum eine so kluge Person wie Marion als schlecht bezahlte Bibliothekarin arbeitet. Und sie ist dabei auch noch zufrieden, das ist mir ein Rätsel. Und vermutlich liegt genau da der Grund, warum das Finanzamt Geld von Ihnen haben will, warum es Ihre Akten nochmals überprüft hat. Man glaubt einfach nicht, dass Sie von derartig wenig Geld leben können. Man vermutet, Sie haben noch andere Einnahmequellen.«
»Wir betreiben eben unser Leben als Hobby, Herr Gaede, nicht um Geld zu verdienen. Sie haben meine Steuerunterlagen gesehen, ich habe nichts auf dem Konto, aber sind Sie glücklicher? Sie haben viel Geld, aber Sie müssen unter allen Umständen jeden Tag um halb drei aufstehen. Und wenn am frühen Morgen Ihr Computer streikt, ist das vermutlich eine mittlere Katastrophe.«
»Für solche Situationen hat man ein Laptop, und notfalls behilft man sich mit dem Handy. Die Katastrophen haben wir im Griff.«
»Sie sind ein junger Mann und haben vermutlich bereits eine halbe Million verdient, vielleicht auch eine Million …«
Klemens Gaede lacht auf: »Wenn man genau weiß, wie viel man hat, hat man sehr wenig, Herr Stolzenburg.«
»Und es geht Ihnen besser als Marion und mir?«
»Mir würde es nicht gefallen, mich derart einzuschränken wie Marion und Sie. Würde mir keinen Spaß machen. – Ich denke, wir sollten aufbrechen.«
»Und Sie können mir helfen?«
»Versuchen wir es. Versuchen wir unser Bestes, um diesen Herrn Kerzer zu etwas mehr Milde zu bewegen. Fahren wir mit Ihrem Auto oder meinem?«
»Ich bin mit dem Fahrrad da.«
»Also nehmen wir meinen Wagen. Ich bringe Sie dann wieder zu Ihrem Fahrrad.«
»Ich besitze ein Auto, Herr Gaede, so arg ist es auch nicht.«
»Ich weiß, ich habe doch Ihre Papiere studiert, ich weiß jetzt alles über Sie. Ich kenne das Baujahr Ihres Autos. Ihre Bank und Ihr Finanzamt besitzen Ihre intimsten Daten. Die wissen mehr als Ihre Frau. Ach stimmt ja, verheiratet sind Sie nicht. Sie sind geschieden, auch das habe ich gesehen.«
Er klopft auf seinen Aktenkoffer, in dem er die beiden Ordner von Stolzenburg verstaut hat.
Im Finanzamt müssen sie fast eine Stunde warten. Als Kerzer sie endlich ins Zimmer bittet, entschuldigt er sich wortreich, es sei nicht seine Art,
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