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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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jemanden warten zu lassen, und Verabredungen seien ihm heilig, aber er habe überraschend bei seinem Chef erscheinen müssen. Er setzt sich an den Schreibtisch, nimmt einen Aktendeckel in die Hand und erklärt, wobei er immer wieder mit einem Finger auf den Bildschirm seines Computers klopft, die Nachzahlung sei mehrfach geprüft und unumgänglich. Stolzenburg erwidert, er habe kein Geld, doch Klemens Gaede unterbricht ihn. Er zieht einen der beiden Aktenordner aus dem Koffer, öffnet ihn und zitiert aus den Steuerbescheiden der letzten beiden Jahre. Er reicht dem Beamten nacheinander einige Blätter und zeigt auf bestimmte Summen, die Stolzenburg als steuerbefreit hätte deklarieren können. Das Finanzamt, sagt er, hätte ihn darauf aufmerksam machen sollen.
    »Wir sind keine Steuerberater, wir akzeptieren die Erklärungen oder korrigieren sie, aber wir machen keinerlei Beratung, und schon gar nicht für Steuertricks«, erwidert Kerzer lächelnd.
    »Herr Stolzenburg hat in den vergangenen zehn Jahren mehr an Sie gezahlt als nötig. Er hatte leider keinen Steuerberater, den konnte er sich nicht leisten. Wollen Sie ihn bestrafen, weil er zu wenig Geld verdient?«
    Klemens Gaede öffnet nochmals den Ordner, entnimmt ihm ein Blatt und gibt es Kerzer.
    »Und hier wird die volle Mehrwertsteuer angesetzt, der ermäßigte Satz wäre aber korrekt. Und das zieht sich durch all die Jahre, da sammelt sich was an. Herr Stolzenburg ist geradezu ein Mäzen des deutschen Fiskus.«
    Gaede nimmt weitere Blätter aus dem Ordner, reicht sie über den Tisch und sagt zu jedem ein paar Sätze, deren Sinn Stolzenburg nicht versteht. Aber er sieht, dass Gaede triumphiert. Bei jedem Bogen, den er über den Tisch reicht, bei jeder Erklärung leuchten seine Augen auf. Er blättert die Formulare wie ein unschlagbares Spielblatt auf den Tisch, als würde er seine Trümpfe aufdecken. Er lächelt siegessicher und lauert auf die Reaktion des Gegners.
    Kerzer scheint beeindruckt zu sein. Er blickt kurz auf die Blätter und nickt zu den Ausführungen Gaedes. Stolzenburg hat fast den Eindruck, Kerzer werde gleich seine Niederlage eingestehen. Nachdem Gaede den letzten Bogen vor ihm ausgebreitet hat, schaut Kerzer ihn an, nickt anerkennend, lächelt nun seinerseits ironisch und sagt: »Richtig, Herr Gaede, alles richtig.«
    Er macht eine Pause, blickt kurz zu Stolzenburg, dann wieder zu Gaede.
    »Alles richtig, gewiss. Aber es sind die Erklärungen, die Herr Stolzenburg einreichte. Wir haben sie akzeptiert. Es ist ausgeschlossen und undenkbar, dass wir die Erklärungen aller Steuerpflichtigen auf Ersparnismöglichkeiten durchgehen. Dafür fehlen uns Mitarbeiter, dafür gibt es Steuerberater. Meine Herren, ich sehe keine Möglichkeiten, die Forderung auszusetzen oder auch nur zu mindern.«
    »Herr Stolzenburg zahlte dem Amt in den letzten zehn Jahren Steuern, die zu zahlen er nicht verpflichtet war. Diese Überzahlungen übersteigen die nun erhobene Forderung. Sie sollten diesen Umstand im Wortsinn in Rechnung stellen und dann auf Ihre Forderung verzichten.«
    »Das kann ich nicht allein entscheiden.«
    »Nein, aber Ihr Wort wäre ausschlaggebend. Anderenfalls sehe ich bei der finanziellen Situation von Herr Stolzenburg nur einen Weg: Sie akzeptieren, dass er die Forderung in Raten begleicht. Zehn oder auch zwanzig Euro im Monat, das könnte er aufbringen, und das Finanzamt hätte in zwanzig Jahren das Geld. Eine andere Möglichkeit hat er nicht, und das wissen Sie genau. Sie kennen seine finanzielle Lage.«
    »In zwanzig Jahren? Darauf können wir uns nicht einlassen.«
    »Genauer gesagt, in sechsundvierzig Jahren.«
    »Herr Gaede, das ist nicht Ihr Ernst.«
    »Wenn wir uns nicht einigen, werde ich Herrn Stolzenburg raten, in private Insolvenz zu gehen.«
    »Bleiben Sie seriös, bitte. Sie haben keine Ahnung, was Sie Ihrem Klienten damit antun. Eine Privatinsolvenz wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind. Außerdem hat Herr Stolzenburg regelmäßige Einnahmen, da hätte ein solcher Antrag keine Chance«
    »Die Einnahmen sind derart gering, dass allein schon die Forderung des Finanzamts den Antrag mehr als rechtfertigt. Und was eine Insolvenz für ihn bedeutet, weiß ich sehr gut und werde es ihm erklären. Sie ist sehr einengend, macht viele Umstände, aber in seiner Situation sehe ich für ihn keine Alternative. Es sei denn, das Finanzamt lässt die Forderung fallen.«
    Stolzenburg versteht wenig von dem, was die Männer verhandeln, immerhin so viel,

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