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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Frau war hier, ein Mädchen«, erwidert sie scharf.
    Er lacht: »Nein, nicht dass ich wüsste. Oder hast du ein Höschen entdeckt, das dir nicht gehört?«
    »Lüg mich nicht an. Wer war hier? Von wem ist der Propeller auf dem Balkon? Den hast du doch nicht gekauft.«
    »Den habe ich gefunden«, sagt er, »auf der Straße. Kein Grund, eifersüchtig zu werden. Wenn der Propeller einem Mädchen gehört, dann war es das widerlichste Kleinkind des Jahres.«
    Er zieht sie mit beiden Händen zu sich.
    »Sei doch nicht dumm«, sagt er. Dann steht er auf und stellt sich ans Fenster. Die Wunde schmerzt jetzt heftig, und vorsichtig legt er eine Hand darauf.
    »Was ist mir dir? Zu müde, zu kaputt?«, fragt Patrizia. »Tut es sehr weh?«
    »Ich denke gerade nach, was ich morgen zu tun habe. Zum Glück muss ich nicht ins Institut.«
    »Bleib ich heute bei dir oder willst du allein sein?«
    »Bleib hier, Patrizia. Bitte.«

Neun
    Am nächsten Morgen ist der rechte Wangenknochen geschwollen, die Haut bläulich verfärbt, ein Auge rot unterlaufen. Patrizia sagt ihm nochmals, er solle einen Arzt aufsuchen und zur Polizei gehen, er schüttelt nur abwehrend den Kopf, lässt sich aber auf ihre Bitten hin das Frühstück ans Bett bringen. Nachdem sie zur Arbeit gegangen ist, steht er auf, wäscht sich und duscht behutsam die Haare, dann macht er sich einen zweiten Kaffee und setzt sich im Bademantel an seinen Computer. Der Hinterkopf schmerzt. Wenn er ihn unwillkürlich berührt, zuckt er zusammen. Er klickt die Presseübersicht der Hochschule an und überfliegt die Titel der ausgewählten Artikel. Dadurch verschafft er sich eine angenehme und für ihn ausreichende Kenntnis der Tageszeitungen. Ein sehr junger, vermutlich schlecht bezahlter Angestellter der Universität hat sie Tag für Tag bis neun Uhr zusammenzustellen, gedacht war sie ausschließlich für das Rektorat und die Institutsleiter. Er hatte vor vier Jahren, als er einen Jubiläumsartikel für den Prorektor zu schreiben hatte und ihm vorübergehend Zugang zu diesem Service gewährt wurde, den jungen Mann gebeten, ihm die Texte auch nach der vereinbarten Zeit an seine E-Mail-Adresse zu schicken, und für einen Espresso war der auch dazu bereit und hatte seine Adresse unter irgendeinem anderen Namen versteckt gespeichert, so dass er seitdem an jedem Wochentag einenQuerschnitt der deutschen Zeitungslandschaft frei Haus geliefert bekam.
    Im politischen Teil geht es fast ausschließlich um Probleme der katholischen Kirche, das Zölibat wird diskutiert, über jahrhundertealte Traditionen soll nachgedacht werden. Alle Zeitungen berichten über Kindesmissbrauch, über Wunden, die noch nach Jahrzehnten bei den Opfern nachwirken, zu sozialen und sexuellen Störungen führen.
    Er muss an die Mädchen denken, an die Rothaarige. Irgendetwas ist bei ihr schiefgelaufen, möglicherweise ist sie auch ein Missbrauchsopfer. Warum sonst sollte ein kleines Mädchen eine Metallkette als Totschläger mit sich schleppen. Vielleicht sind nicht nur die Täter allgemein gefährlich, vielleicht sind es auch ihre Opfer. Sie stellen nach dem Missbrauch eine Gefahr für ihre Umgebung dar. Rachsüchtig, angriffslustig aus der Angst heraus, angegriffen zu werden. Ein Leben mit geballten Fäusten. Verständlich, aber eine Gefahr. Vielleicht bräuchten auch Opfer eine Sicherheitsverwahrung.
    Er lacht über sich selbst, lacht, weil er nach Erklärungen für das Verhalten des rothaarigen Mädchens sucht, nach Entschuldigungen für ihre Aggression. Er will nicht mehr an sie denken. Er blättert rasch weiter, liest zwei Buchkritiken über Arbeiten von Kollegen und macht sich eine Notiz. Schließlich schaut er sich den heftigen Verriss einer Aufführung in Hamburg an. Ihn interessieren weder Stück noch Bühne, er liest nur belustigt die bösartigen Bemerkungen, die hundsgemeinen Formulierungen des selbstgefälligen Kritikers. Er liest den Artikel aus reiner Schadenfreude, wie er sich eingesteht, aus der gleichen Schadenfreude, mit der dieGehässigkeit niedergeschrieben war. Es gefällt ihm, wie die Arbeit von anderen Leuten vernichtend beschrieben wird. Er kennt diese Menschen nicht, er hat nichts gegen sie, es macht ihm lediglich Spaß. Sehr viel mehr Spaß, als ihm ein Lob bereitet hätte, das er in dem Fall vermutlich überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen würde. Eine seltsame Lust an dem Unglück, an dem Pech eines anderen. Das nennt man wohl menschlich. Vermutlich hätte es andere gefreut, wenn sie gesehen

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