Weiskerns Nachlass
hätten, wie er am gestrigen Nachmittag von Kindern zusammengeschlagen wurde, er könnte sofort ein paar Leute nennen, die liebend gern dabei gewesen wären und die es erfreut genießen werden, wenn sie davon hören.
Er schaut sich in seinem E-Mail-Briefkasten die eingegangene Post an. Die meisten Nachrichten löscht er, ohne sie vorher zu öffnen. Es sind Angebote für irgendwelche Schnäppchen, die ihn nicht interessieren, oder Anfragen seiner Studenten, die sich wegen jeder Kleinigkeit an ihn wenden, die sie ebenso gut der Sekundärliteratur entnehmen oder im Sekretariat erfahren könnten. Er hat den Studenten wiederholt erklärt, er lese grundsätzlich ihre E-Mails nicht, öffne sie nicht einmal, sie erhielten seine E-Mail-Adresse zwar bei Beginn des Studiums vom Institut, allerdings lediglich als Information, wonach an diese Adresse niemals etwas geschickt werden dürfe. Es hatte alles nichts geholfen. Wenn ein Student irgendein angegebenes Buch nicht in der Bibliothek fand, Probleme mit einer Jahresarbeit hatte oder aus angeblich gewichtigen Gründen ein Seminar versäumen musste, man schickte ihm eine E-Mail, und an jedem Wochentag hatte er dutzendfach diesen Unsinn nach einem ersten Blick auf den Absender zu löschen.
Den achten Brief hat er bereits in den Papierkorb geschickt, als er plötzlich stutzt. Ihm ist im gleichen Augenblick, als er den Löschbefehl gegeben hat, ein Name ins Auge gestochen. Er öffnet den Papierkorb und holt die Nachricht heraus. Tatsächlich, er hat sich nicht geirrt, der Name Weiskern steht dort, Friedrich Wilhelm Weiskern. Ein Herr Conrad Aberte wendet sich an ihn und bietet Weiskern-Originale an. Er habe, schreibt er, zwölf Handschriften von Weiskern, neunundzwanzig Blätter. Es seien Briefe an die Mutter und einen Großonkel, den Rittmeister Gottlieb Bretzner, in denen Weiskern ausführlich über seine Auftritte als Schauspieler am Theater am Kärntner Tor berichtet und von den großen Erfolgen seiner eigenen Stegreifkomödien. Mozart werde dreimal erwähnt, zwei Schilderungen von Kutschfahrten an der Donau verweisen, wenn auch kein Name genannt wird, darüber hinaus unzweideutig auf den jungen Komponisten. Den Briefen an die Mutter liege überdies ein Billett der Kaiserin bei mit einem kurzen handschriftlichen Gruß Maria Theresias an den geschätzten Odoardo. Letzteres sei die bekannteste Figur, die Weiskern geschaffen habe, und in dieser Rolle sei er wiederholt nicht nur an seinem Theater, sondern auch am Hof aufgetreten.
Conrad Aberte schrieb weiter, er habe die Manuskripte in Helbra bei einer Wohnungsauflösung in der Siebigeröder Straße erworben und beabsichtige, sie einem Auktionshaus anzubieten. Er habe vor Monaten mit dem Dorotheum in Wien Kontakt aufgenommen und seinen Fund im Palais in der Dorotheergasse prüfen und schätzen lassen. Ein Gutachten liege vor, ebenso ein Angebot des Auktionshauses. Da er aber im Internet einen langen Aufsatz von Stolzenburg über Weiskern entdeckt habe, wolle er ihm das neue sensationelle Material, bevor er es zur Versteigerung gebe und dieses dann in irgendeinem Archiv für Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte verschwinde, anbieten. Das Einstiegsangebot des Wiener Auktionshauses liege bei fünfzehntausend Euro, erfahrungsgemäß sei mit einer sehr viel höheren Summe zu rechnen, aber da er einerseits die kostbaren Blätter lieber in der Hand eines kompetenten Wissenschaftlers sehe als bei irgendeinem auf Nebengestalten des 18. Jahrhunderts spezialisierten Sammler, andrerseits das Auktionshaus einen erheblichen Teil des Auktionserlöses einbehalte, würde er Stolzenburg die Manuskripte zum Einstiegspreis anbieten. Das Gutachten des Dorotheums stehe ihm selbstverständlich zur Verfügung.
Stolzenburg bekommt beim Lesen schweißnasse Hände. Er geht in die Küche und setzt Wasser auf, um sich einen Tee zu machen. Zwölf Handschriften von Weiskern, neunundzwanzig Blätter, er atmet tief durch. Und das alles lag fast dreihundert Jahre auf einem Dachboden in einer sächsischen Kleinstadt. Dieser Kerl, dieser Aberte, was für ein Name, hat vermutlich nicht die geringste Ahnung, wer Weiskern war. Er hat die uralten Briefe gesehen und sofort zugeschlagen. Was wird er dafür bezahlt haben? Vielleicht den üblichen Kilopreis von Altstoffhändlern oder zehn Euro pro Briefbogen. Er wusste, dass das Geld wieder hereinkommen wird, wusste, für alte Handschriften würde er vermutlich irgendwo irgendeinen reichen Trottel finden, der ihm dafür
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