Weiskerns Nachlass
Expertise des Wiener Auktionshauses, ein dreiseitiges Schreiben des Dorotheums mit prachtvollem Briefkopf auf der ersten Seite. Akkurat werden die zwölf Briefe von Friedrich Wilhelm Weiskern aufgelistet, der Umfang notiert, ein Blatt oder zwei oder sogar drei, gefolgt von jeweils zwei Zeilen langen Inhaltswiedergaben. Daran an schließt sich eine Zustandsbeschreibung der Papiere, sie seien leicht stockfleckig und an den Rändern verfärbt. Das gesamte Corpus müsse restauriert werden, da die Papiere ursprünglich von mangelhafter Qualität seien und durch offensichtlich unsachgemäße Lagerung ihr Bestand gefährdet sei. Auf zwei Briefen gebe es handschriftliche Zusätze einer zweiten Person, möglicherweise der Adressatin, der Mutter.
Der Gutachter, ein Professor Ferdinand Koenig, empfiehlt, den Faszikel zur Auktion anzunehmen, ihn demRestaurator für erste Sicherungsmaßnahmen zu übergeben. In einem zweiten Schreiben schlägt derselbe Gutachter dem Auktionshaus vor, dem Anbieter der neunundzwanzig Blätter eine Eingangssumme von fünfzehntausend Euro vorzuschlagen.
Stolzenburg liest wiederholt die knappen Inhaltsangaben der Briefe. Es scheinen tatsächlich Zeitdokumente zu sein mit Kommentaren und Sottisen zum Hof, über den Kaiser, zur Wiener Musikszene. Der Name Mozart werde in drei Briefen genannt. In acht Briefen seien despektierliche Bemerkungen zu Maria Theresia und Josef II . Und in allen Briefen erzählt Weiskern über seine Arbeiten für das Theater, für die Oper, über seine Texte für Mozart, offenbar schrieb er drei Libretti für ihn, und berichtet von den Fortschritten seiner großen Topographie.
Stolzenburg ist erregt. Er läuft im Zimmer auf und ab, schaut immer wieder auf den Bildschirm. Er druckt die beiden Briefe aus, geht mit den Blättern in die Küche, setzt Wasser auf, stellt sich ans Fenster und schaut auf die Straße. Er schaltet dann am Herd das Gas aus, geht ins Wohnzimmer, setzt sich in einen Sessel und liest nochmals die Inhaltsangaben der aufgefundenen Briefe. Wenn diese wenigen Zeilen tatsächlich eine genaue Zusammenfassung der Briefe sind, so würde der Fund seine Erwartungen weit übersteigen. Die Briefe an Weiskerns Mutter und den Rittmeister Gottlieb Bretzner, seinen Großonkel, sind eine Sensation, sie könnten das Zentrum der Werkausgabe bilden. Mit ihrer Hilfe wäre sehr viel leichter ein Verleger zu gewinnen, den eine überraschende grandiose Neuentdeckung, die er als Erster publizierte, bewegen könnte, ein so schwieriges Projekt wiedie Schriften von Weiskern zu veröffentlichen. Zuallerst müsste er die Briefe sehen, diesen Aberte dazu bewegen, ihm die Originale zu zeigen oder Kopien zu überlassen. Das erscheint ihm keine unüberwindliche Schwierigkeit zu sein, denn schließlich will Aberte verkaufen, will sie ihm verkaufen, und er kann nicht verlangen, dass er für eine Katze im Sack blindlings ein Vermögen hinblättert. Das kann er von keinem Privatmann verlangen, und von einer Institution wie der Universität schon gar nicht. Denn er hatte sich entschlossen, als Institution aufzutreten, als Beauftragter seines Instituts, es erschien ihm aussichtsreicher, und er könnte während der Verhandlungen immer wieder Nachfragen vorschützen oder Bedenken seiner Vorgesetzten.
Schwieriger scheint ihm, die Druckgenehmigung zu erhalten, falls die Briefe in dritte Hände übergehen. Wer immer die Briefe kauft, würde seinem Wunsch, ihm den Text für eine Publikation zu überlassen, nur dann entsprechen, wenn er selber nichts weiter vorhabe, als alte Originalblätter zu sammeln. Die meisten dieser Sammler jedoch, jedenfalls soweit Stolzenburg sie kennengelernt hat, lassen die Objekte ihrer Leidenschaft nicht in Schränken und Schubläden verschwinden, um sich ab und zu an ihrem Anblick zu ergötzen, sondern stellen sie aus, lassen Kataloge herstellen, suchen die Öffentlichkeit. Und dafür brauchen sie eine Aura von Einzigartigkeit, das alte ius primae noctis, das Recht der ersten Vorstellung, die Premiere. Sie werden sich von einem kleinen Wissenschaftler dieses Recht nicht abkaufen lassen, zumal er es nicht einmal kaufen, sondern geschenkt haben will. Stolzenburg kennt diese Sammler. Sie waren es, die den Preis für die wenigen erhaltenen Exemplareder Weiskern’schen Topographie von Niederösterreich in solche Höhen trieben, dass er, wenn er auf ein Exemplar stößt, nie in der Lage ist, die geforderte Summe zu zahlen. Sie sind es, die diese Bücher mit ihrer Leidenschaft
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