Weiskerns Nachlass
einen Tausender hinblättert. Und dann hat er nachgeforscht, rasch entdeckt, dass dieser Weiskern nicht irgendwer ist, sondern dass er auf eine Goldader gestoßen ist. Erhat es Wien angeboten, und das dortige Auktionshaus hat rasch ein Geschäft gewittert, da Weiskern zum Umfeld von Mozart gehört und man mit allem, was diesen berührte, Geld machen kann. Fünfzehntausend! Eine unsinnig hohe Summe, jedenfalls für ihn. Andrerseits braucht er nicht die Originale, ihm würden Kopien reichen, er müsste diesen Aberte dazu bringen, ihm wenigstens Kopien seines Fundes zu zeigen. Oder das Auktionshaus, dieses Dorotheum. Wenn man dort die Blätter geprüft hat, müssen sie im Haus gewesen sein, und man hat ganz sicher Kopien davon gemacht. Und potentielle Käufer werden auch einen Blick auf die Ware werfen wollen. Falls er diesen Aberte nicht dazu bewegen kann, bestünde auch die Möglichkeit, sich beim Auktionshaus als Interessent zu melden und um Kopien zu bitten oder zumindest um Einsicht in den zu versteigernden Schatz.
Eine Stunde später schickt er an Conrad Aberte eine E-Mail. Er teilt ihm in knappen Worten sein Interesse mit, dankt für die Verkaufsbereitschaft und bittet um die Wiener Expertise. Er schreibt sachlich, bemüht, seine Erregung zu verbergen, er will diesem Aberte jenen Eindruck einer nüchternen, teilnahmslosen Aufmerksamkeit vermitteln, die ein von der Universität beauftragter Archivmitarbeiter aufzubringen hat. Er hofft, dem Herrn mit dieser Zurückhaltung zu signalisieren, sich durchaus für den Ankauf der Briefe zu interessieren, jedoch nicht um jeden Preis.
Als sich zwei Stunden später noch keine Antwort im Postkasten findet, wird er nervös. Möglicherweise ist seine Antwort zu kühl, zu unbeteiligt gewesen und hat bei Aberte den Eindruck hinterlassen, dieser Fund sei für ihn eher belanglos. Andrerseits, wer sonst könnte begierig nach Manuskripten von Weiskern sein, wer könnte ihm zuvorkommen? Ihm fällt Jürgen Richter ein, der Verleger in Frankfurt. Der würde eventuell das Angebot von Aberte sofort akzeptieren, falls Aberte auf dessen Namen gestoßen war. Doch wenn Richter kaufen würde, bedeutete das für ihn einen Glücksfall. Der Verleger überließe ihm Kopien, wollte er doch eine Ausgabe der Weiskernschen Schriften nach seinen Möglichkeiten fördern. Falls mit Aberte nicht zu reden ist, falls er ihm die Dokumente nicht zeigen will, könnte er selbst Richter informieren und ihn fragen, ob er, der damals viel Geld für Weiskerns österreichische Topographie ausgegeben hatte, nicht ein paar einzigartige Originale erstehen will, die er ihm dann in irgendeiner Form für die Weiskern-Ausgabe zur Verfügung stellen würde. Richter könnte die Lösung sein, denn er selbst kann die geforderte Summe nicht aufbringen, nicht die Hälfte, nicht ein Viertel.
Als er mittags in die Küche geht, um sich einen Imbiss zu machen, bemerkt er, dass er den gesamten Vormittag über kaum etwas getan hat. Das Angebot von Aberte hat ihn ununterbrochen beschäftigt und von seiner Arbeit abgelenkt. Er schüttelt über sich den Kopf. Es ist unsinnig, sich mit ungelegten Eiern zu beschäftigen. Wieso geht er davon aus, dass die Briefe für ihn und die Werkausgabe wichtig sind, dass sie nicht lediglich private Mitteilungen über selbst familiär nebensächliche Ereignisse enthalten, für den Historiker ohne Wert, nichts Erhellendes über die Zeit und die Arbeit von Weiskern? Er kann nicht seine Zeit und schon gar nicht ein Geld, das er nicht hat, für Zettel verschwenden, auf denen nichts weiter steht, als dass der Sohnemann neue Hemden braucht, der Tante Gertrude zum Namenstag gratuliert oder dass das Wetter in Wien hundsföttisch kalt ist.
Er stößt mit dem Kopf gegen eine offen stehende Schranktür und zuckt zusammen, die Verletzung meldet sich, auch die hat er vollkommen vergessen. Er geht ins Bad und betrachtet sein Gesicht. Die Schwellung ist nicht zurückgegangen, die Verfärbung jetzt in ein intensives, hässliches Gelb übergegangen, als habe er die rechte Wange mit einer Creme eingeschmiert. Er nimmt den kleinen Spiegel aus dem Reisenecessaire, um damit einen Blick auf den Hinterkopf zu werfen. Vorsichtig berührt er die Wunde, er spürt Schorf, der Schmerz ist erträglich, in zwei, drei Tagen ist alles vergessen.
Zurück am Schreibtisch öffnet er erneut den Briefkasten im Computer. Aberte hat geantwortet, nur zwei Zeilen: Das Gewünschte als Anhang, beste Grüße. Der Anhang enthält die
Weitere Kostenlose Bücher