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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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beruhigt sie einer der Männer, »das waren kleine Mädchen. Vor denen brauchst du dich nicht zu fürchten.«
    Er wendet sich an Stolzenburg: »Haben Sie jemandenerkannt? Was wollten die von Ihnen? Fehlt etwas? Hat man sie bestohlen?«
    Stolzenburg starrt ihn an, ohne zu antworten. Es waren kleine Mädchen, wiederholt er im Stillen die Worte des Mannes. Ja, er hat recht, es waren kleine Mädchen, es waren Kinder, die ihn zusammengeschlagen haben. Er schüttelt den Kopf und nimmt das Fahrrad, das einer der beiden Männer hält. Er nickt ihnen nochmals zu und läuft mit dem Fahrrad los. Er schiebt es nach Hause. Kleine Mädchen, geht ihm durch den Kopf, Kinder, ja. Ihn haben Kinder vom Rad geholt, Kinder haben ihn zusammengeschlagen. Kinder waren es, keine Halbstarken, keine Rowdys, keine martialisch wirkende Truppe glatzköpfiger, durchtrainierter junger Männer aus einem Fitnessstudio. Nein, kleine Kinder, junge Mädchen, die vielleicht noch mit Puppen spielen. Er wollte es den Leuten, die ihm auf die Beine geholfen hatten, nicht sagen, ihnen nicht sagen, dass ihn kleine Mädchen so zugerichtet hatten. Ein Gefühl von Scham hatte ihn instinktiv davon abgehalten, und im Nachhinein findet er es richtig, ihnen nicht diese lächerliche Wahrheit gesagt zu haben.
    Kinder, sagt er sich immer wieder, dich haben kleine Schulkinder zusammengeschlagen. Sie hätten dich auch totschlagen können, dann wäre die Peinlichkeit perfekt. Würde sich als Todesanzeige seltsam lesen, wäre eher etwas für die Rubrik Vermischtes oder Kuriositäten. Hochschullehrer erliegt den Folgen eines gewaltsamen Anschlags von Schulkindern. Bald musst du dich vor Kindern aus Kindergärten hüten.
    Er hat vor ihnen keine Angst gehabt, nicht einen Moment. Er hatte nie mit einem Angriff, einem so brutalen Angriff von kleinen Mädchen gerechnet. Auch als sie ihnauf dem Weg zu Patrizias Salon von hinten auf den Kopf geschlagen hatten, war er nicht besorgt oder beunruhigt gewesen. Und als er sie wieder traf oder sie ihm aufgelauert hatten, war er nicht beängstigt, sondern nur bemüht, eine erneute Auseinandersetzung zu vermeiden. Er hatte sich nicht vor ihnen gefürchtet, vielmehr sich bemüht, gegen die aggressiven Mädchen nicht Gewalt anwenden zu müssen. Er wollte nicht gegen Minderjährige handgreiflich werden müssen. Die Vorstellung, sie zurückzustoßen und ihnen dabei wehzutun oder sie gar zu verletzen, missfiel ihm, er war schließlich Pädagoge und wusste, wie folgenreich ein solcher Zusammenstoß für ihn werden, welche beruflichen Konsequenzen eine unüberlegte oder unglückliche Handbewegung nach sich ziehen konnte. Er wollte die Kinder beruhigen und von seiner Person ablenken. Er hatte keine Angst, von ihnen zusammengeschlagen zu werden, er fürchtete umgekehrt, sie zu schlagen, sich an Kindern zu vergehen.
    Bis zu dem Augenblick, in dem die Rothaarige diese Kette aus ihrem Rucksack nahm, fühlte er sich den kleinen Mädchen überlegen und sprach aus dieser Sicherheit mit ihnen. Doch in dem Moment, in dem er die Kette sah, diese stählernen, vibrierenden Kettenglieder an einem handgerechten, zweckmäßigen Griff, wusste er, das Mädchen hat eine Waffe in der Hand und sie war geübt, damit umzugehen. Er begriff sofort: Dieses Mädchen ist gefährlich, sie greift ihn an, er muss fliehen. Er sah dem Mädchen in die Augen, und da hatte er plötzlich Angst. Panische Angst. Einen Moment später lag er auf der Erde, und als er wieder zu sich gekommen war und nicht wusste, wie lange er auf dem Bürgersteig gelegen hatte, war er erleichtert, dass die Mädchen verschwunden waren und sich irgendwelche Fremden seiner annahmen.
    Daheim geht er ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. Er zieht sich aus und wirft Jacke und Hemd in den Wäschekorb, dann duscht er sich. Die Kopfwunde schmerzt, doch er lässt lange das warme Wasser darüber laufen, um das Blut aus den Haaren zu spülen. Behutsam trocknet er sich ab, um mit dem Handtuch nicht die Wunden zu berühren und die vom Schlag sich langsam rötlich färbende rechte Wange. Da es ihm Mühe bereitet, sich ein Hemd über den geschundenen Kopf zu streifen, zieht er den Bademantel an, dann betrachtet er minutenlang sein Gesicht und den im Spiegel sichtbaren Teil der Wunde. Als es an der Haustür klingelt, schaut er nochmals in den Spiegel und sagt sich, es sei wohl in seinem Zustand besser, eine Wollmütze aufzusetzen. Er drückt den Türöffner, öffnet die Wohnungstür einen Spalt und geht in die

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