Weiskerns Nachlass
verheimlichen, was jeder neue Arbeitgeber ohnehin in den Personalpapieren zu sehen bekommen würde. Der Verleger fragte, ob er selbst auch vorhabe, auszureisen, und sagte, als Stolzenburg dies verneinte, in seinem Verlag habe er drei Mitarbeiter mit solchen Anträgen, das sei für ihn überhaupt kein Problem, solange sie ihre Arbeit machen, misslich sei allein der Umstand, dass keiner sagen könne, wie lange sie noch im Lande bleiben und wann er sich um neue Kräfte kümmern müsse. Einen Monat später bekam Stolzenburg von ihm einen Arbeitsvertrag zugeschickt, und im März räumte er seine Wohnung in Berlin, zog nach Leipzig, wo er für ein Vierteljahr in der Gästewohnung des Verlages wohnte, um sich in aller Ruhe eine neue Bleibe zu suchen.
Seinen Eltern hatte er geschrieben, welche Folgen sich durch ihre Ausreise für ihn ergeben hatten, aber er fügte hinzu, er sei zufrieden, da im Verlag ein freundschaftlicheres Klima unter den Kollegen herrsche und er zudem etwas mehr verdiene als an der Universität. Besuchen konnte er sie drei Jahre später zum ersten Mal in Flensburg, als er im Verlag eine Werkausgabe von Detlev von Liliencron herauszugeben hatte und deswegen für eine Woche nach Holstein und Kiel reisen konnte. Sie luden damals all ihre neuen Freunde und Bekannten ein, um ihn vorzustellen, und einige von ihnen hatte er bei späteren Besuchen wiedergesehen, doch ihre Gesichter und Namen sagten ihm nichts, und als Mutter ihm nun die Todesfälle aufzählt, hört er ihr schweigend zu. Sie wechselt dann zu den Krankheiten der Nachbarn, erzählt von einer Hüftoperation ihrer Vermieterin. Er unterbricht sie und fragt nach Vater.
»Wir gehen ins Altersheim«, sagt sie, »ich schaff es allein nicht mehr. Wir gehen in ein dänisches Altersheim, die sind viel besser und netter als die deutschen. Von meinen Kindern kann ich nichts erwarten, die haben keine Zeit für uns. Aber das dänische Altersheim ist gut, alle meine Bekannten hier wollen in das dänische. Und wir haben zwei Plätze bekommen.«
»Wann zieht ihr um?«
»Darum habe ich dich angerufen, Rüdiger. Wir ziehen am vierundzwanzigsten November um, in einem Monat, und ich dachte, vielleicht kommst du ein, zwei Tage vorher zu uns. Du könntest mir helfen und ein paar Stücke aus unserer Wohnung solltest du dir nehmen. Wir bekommen nur zwei Zimmer, da müssen wir viel zurücklassen, sehr viel. Es sind schöne Sachen dabei.«
»Am vierundzwanzigsten? Gut, ich trage es mir ein. Ich will sehen, was ich tun kann. Was ist das für ein Wochentag?«
»Ein Montag.«
Er verspricht zu kommen. Mutter erzählt ihm, Vater bewege sich gar nicht mehr und habe Mühe zu lesen, da er kein Buch halten und die Seiten nicht umblättern könne. Er höre den ganzen Tag Radio und sei stundenlang beschäftigt und zufrieden, wenn jemand im Radio Geschichten vorliest. Seinetwegen sei sie Mitglied in einem Phonoclub geworden, und nun bekämen sie alle vierzehn Tage mehrere CDs mit Geschichten zugeschickt, die er sich anhöre. Dann dürfe sie kein Wortreden, kein einziges, doch sie sei es zufrieden, denn dadurch könne sie ungestört die Hausarbeit erledigen.
»Und du? Wie geht es dir?«
»Was soll ich sagen, Junge? Ich bin einundachtzig. Ich freu mich, wenn ich ab und zu an die See komme. Manchmal holt mich Rudi ab, und wir fahren zum Hafen und trinken einen Kaffee. Oder Rosel und Grete kommen, dann leisten wir drei uns ein Taxi.«
»Ich komme am vierundzwanzigsten, Mutter.«
»Komm zwei Tage eher, Junge. Das Einpacken ist schwierig, ich fürchte, ich mache das ganze gute Porzellan dabei kaputt. Und die schweren Sachen …«
»Mach dir keine Sorgen, Mutter. Ich bin am Wochenende vor dem Umzug bei euch.«
Er schlägt den Kalender auf und trägt den Termin ein. Dann überlegt er einen Moment und sagt sich, dass er den ganzen Montag und auch den Dienstag den Eltern helfen müsse. Er werde frühestens Dienstagabend zurückfahren können. Er macht sich eine Notiz, um an diesen zwei Tagen keine Verpflichtungen im Institut zu haben. Seine Veranstaltungen kann er verlegen oder in der Woche davor oder danach Doppelstunden ansetzen.
Den nächsten Tag verbringt er von früh bis abends in der Deutschen Bücherei. Er arbeitet gern im Lesesaal, und wie stets geht er in den Saal für die Naturwissenschaften und freut sich, wenn dort sein Lieblingstisch frei ist. Die Naturwissenschaftler sind ruhigere Leser als die im Techniksaal oder bei den Geisteswissenschaften, sie flüstern nicht und
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