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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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stehen seltener als die anderen von ihrem Tisch auf, um sich neue Bücher zu holen oder eine Pause zu machen. Außerdem kennt er dort keinen, niemand spricht ihn an, keiner stört ihn, er kann konzentriert arbeiten, konzentrierter als daheim. Er schätzt die Atmosphäre dieser Bücherei, den alten Lesesaal, die vollständig mit Bücherregalen bedeckten Wände, selbst die alten Tische atmen den Geist von Jahrhunderten, von Forschung und Gelehrsamkeit. Als er sich am Abend auf sein Rad schwingt, ist er mit sich sehr zufrieden. Er hat den ganzen Tag gelesen und geschrieben und sich durch nichts ablenken lassen.
    Daheim erwartet ihn eine E-Mail von Conrad Aberte, der ihm mitteilt, es sei ausgeschlossen, dass er die Manuskripte vor dem Kauf in die Hand bekomme. Die Blätter müssten nach Ansicht des Dorotheums, wie er ja mit eigenen Augen gelesen habe, zuallererst zum Restaurator. Ein Gutachter des Auktionshauses habe die Blätter bewertet, sie seien angesichts einer möglichen Annahme zur Auktion von ihm gesichert und ihm in einer plombierten Kassette zurückgegeben worden. Wenn er die Plombe löse, verfalle die inzwischen erfolgte Zusage des Dorotheums. Er selbst bleibe bei seinem Vorzugsangebot, da es auch für ihn finanziell vorteilhaft sei, denn der Anteil des Auktionshauses bei einem Verkauf sei derart gigantisch, dass er nur bei einem überdurchschnittlichen hohen Gebot die Einstiegssumme erhalte. Sobald Stolzenburg das Geld habe, könnten sie sich bei ihm in München zur Übergabe treffen, er sei aber auch bereit, ihm die Weiskern-Briefe an einem beliebig anderen Ort auszuhändigen. Sein Angebot sei befristet bis zum zweiten Dezember, denn mit dem Dorotheum sei vereinbart, die Kassette spätestens am dritten Dezember im Auktionshaus einzuliefern.
    Stolzenburg atmet schwer. Die Nachricht verwirrtihn. Er versteht die Weigerung von Aberte, zumal das Dorotheum auf den Verschluss gedrängt und die Manuskripte offenbar versiegelt hat. Wenn er darauf besteht, die Blätter sehen zu wollen, wird Aberte den Kontakt beenden. Seine einzige Hoffnung ist Jürgen Richter, und wenn der absagt, muss er vor der Auktion nach Wien fahren, um sich dort die Blätter anzusehen. Vermutlich wird die Versteigerung Ende des Jahres stattfinden, und er nimmt an, dass die zur Auktion gelangenden Objekte für die Bieter einige Tage vorher ausgelegt werden. Er weiß es nicht, denn er war in seinem ganzen Leben noch nie bei einer Auktion.
    Er entschließt sich, Aberte vorerst nicht zu antworten, sich aber noch einmal an Jürgen Richter zu wenden, ihm die baldige Versteigerung mitzuteilen und ihn um Hilfe zu bitten. Den Brief an den Verleger schreibt er am selben Abend.
    Am nächsten Morgen, er hat schlecht geschlafen, Abertes Weigerung, ihn die Briefe einsehen zu lassen, hat ihn verstört, er ist nachts immer wieder wach geworden und hat über einen Ausweg gegrübelt, der ihm einen Vorwand lieferte, eine Hintertür öffnete, um an die kostbaren und ihm so wichtigen Manuskripte zu kommen, am Morgen sucht er nach dem Frühstück im Internet die Adresse des Wiener Auktionshauses heraus und ruft dort an. Er erkundigt sich, wann die Weiskern-Manuskripte versteigert werden. Er wird zweimal weiterverbunden, man ist höchst zuvorkommend, aber niemand kann ihm etwas über den Versteigerungstermin sagen. Schließlich fragt er nach Professor König und wird mit dessen Sekretärin verbunden. Sie fragt nach seinem Anliegen, er sagt ihr, er müsse ihn eines Gutachtens wegensprechen, und sie bittet ihn, nach Tisch anzurufen, dann sei Herr Professor König wieder in seinem Büro.
    »Und wann ist nach Tisch?«
    »Rufen Sie bitte nach zwei Uhr an.«
    Im Institut gibt ihm Sylvia den von Schlösser unterschriebenen Brief an Aberte. Er dankt ihr und steckt ihn ein, er weiß, er könnte ihn ebenso gut zerreißen und in den Papierkorb werfen, das Schreiben wird ihm nicht helfen. Nach dem Seminar fährt er nach Hause, er muss zwar zwei Stunden später wieder im Institut sein, da er Sprechstunde hat, aber er will diesen Professor Koenig sprechen, allein, nicht in Anwesenheit von Kollegen.
    Die Sekretärin im Dorotheum verbindet ihn sofort mit ihrem Chef, und der Professor ist zunächst äußerst liebenswürdig, erklärt Stolzenburg allerdings, er sei kein Gutachter des Hauses und die Namen Aberte und Weiskern sagten ihm nichts. Stolzenburg wiederholt, ihm liege die Kopie eines Gutachtens des Auktionshauses vor. Er nimmt den Ausdruck in die Hand und sagt, es sei von einem

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