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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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überblicken. Andererseits gibt es die Briefe und das Gutachten von jenem mysteriösen Professor Koenig. Er könnte Aberte schreiben, ihm die Umstände schildern, aber er fürchtet, er werde diesen Aberte verärgern, wenn er von seiner Kontaktaufnahme mit dem Auktionshaus und von den Nachforschungen erfährt, so dass der sich nicht mehr bei ihm melden würde. Da er nicht weiß, wo Aberte wohnt, er lediglich eine E-Mail-Adresse von ihm besitzt, besteht die Gefahr, dass ihm der Mann und damit die Weiskern-Briefe verloren gehen. Er überlegt, ob er einen Fehler gemacht, ob er bei Aberte etwas übersehen hat oder jener Magister Krebs vom Dorotheum mit den Briefen eigene Ziele verfolge, er die Briefe bereits versteigert oder sie für einen anderen Interessenten hat reservieren lassen und deshalb ihm gegenüber dieExistenz dieser Manuskripte und das Gutachten seines Haus bestreitet. Er müsse abwarten, sagt er sich, vielleicht war er zu aktiv, zu fordernd, auf eine unkluge Art zu begierig, das sei nicht die Art, einen Vogel zu fangen, er müsse sich wie bei einer Versteigerung verhalten und aufmerksam das Umfeld im Auge behalten, das eigene Interesse hinter dem Schleier teilnahmsloser, blasierter Gleichgültigkeit versteckt, um im rechten Moment, jedoch keinesfalls zu früh oder gar voreilig, die Hand oder Stimme zu erheben.
    Er schiebt die Papiere zusammen, heftet sie mit einer Klammer aneinander und steckt sie in einen der Pappschuber mit eigenen Arbeiten und Materialien zu Weiskern. Das Angebot und das Gutachten sind damit dort, wo sie hingehören, später leicht auffindbar und endlich aus seinem Blickfeld und hoffentlich auch aus seinem Kopf, denn er hat, wie er sich selbst eingestehen muss, viel Zeit mit dem überraschenden Angebot verbracht, viel zu viele Stunden, in denen er seine Seminare vorbereiten oder eine der misslichen, aber unumgänglichen Brotarbeiten hätte erledigen können, für die er geringe und eigentlich schäbige Honorare erhielt, auf die er dennoch angewiesen ist. Noch immer droht der Zahlungsbescheid des Finanzamtes, der bislang nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben worden ist, und er muss damit rechnen, dass man ihm möglicherweise entgegenkommen, aber gewiss nicht vollständig von der Forderung zurücktreten werde, weshalb er in den nächsten Monaten für seine kostspielige Marotte Weiskern weniger Zeit aufwenden darf und sich intensiver um dumme und langweilige Aufträge bemühen muss.

Elf
    Als er nach dem Wochenende ins Institut kommt, liegt im Sekretariat eine Notiz von Marion in seinem Fach, sie bittet ihn, bei ihr vorbeizuschauen. Er geht in die Bibliothek, er vermutet, eins seiner per Fernleihe bestellten Bücher sei eingetroffen. Marion sucht für einen Studenten etwas heraus, Stolzenburg tritt an das Regal mit den Bestellungen, ein Dutzend Bücher steht dort, aber er entdeckt keinen Titel, der von ihm angefordert war. Marion signalisiert ihm, er möge warten.
    »Hast du heute Abend Zeit? Ich lade dich zum Essen bei mir ein«, sagt sie, nachdem der Student gegangen ist.
    »Nur wir zwei? Wunderbar, gern, ich komme.«
    »Nein, nein, nicht zu zweit. Es kommt noch ein Gast.«
    »Dein Professor? Lerne ich ihn endlich kennen?«
    »Eine Freundin. Nur du und eine Freundin. Und ich koche für euch. Tafelspitz, ich habe ein wundervolles Stück gekauft.«
    »Und die Freundin, kenne ich sie?«
    »Nein, aber ich möchte, dass ihr euch kennenlernt.«
    »Ist sie hübsch?«
    »Mehr als hübsch. Sie ist schön.«
    »So schön wie du?«
    »Lass dich überraschen. Du wirst es nicht bereuen. Du wirst für mich keinen Blick mehr haben.«
    »Ach, Marion, das ist ausgeschlossen. Auch wenn ichbei dir keine Chancen habe, du bleibst für immer in meinem Herzen.«
    »Nein, bitte nicht, da ist das Gedränge zu groß. Also, heute Abend halb acht?«
    »Sehr gern. Danke. Du betätigst dich neuerdings wohl als Kuppelmutter.«
    Marion lacht auf: »Das siehst du nicht ganz falsch, Rüdiger. Jette – meine Freundin heißt Henriette –, Jette wird dir gefallen. Und sie ist wirklich schön. Jette ist eine schöne, tolle Frau.«
    »Und warum ist sie dann solo? Sie ist doch solo, oder?«
    »Was soll ich sagen? Es gibt einfach entsetzlich blöde Männer. Und Frauen, die immer wieder auf entsetzlich blöde Männer reinfallen.«
    »Und ich gehöre nicht dazu, zu diesen entsetzlich blöden?«
    »Nicht immer.«
    »Danke für das Kompliment, wenn ich auch nicht weiß, ob es eins ist. Und Dank für die Einladung. Ich

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