Weiskerns Nachlass
Fahrrad«, erwidert Stolzenburg.
Schlösser nickt uninteressiert und beugt sich wieder über seine Papiere.
Daheim hört er einen Anruf seiner Mutter ab. Die Eltern leben in Flensburg, in einem Mehrfamilienhaus in der Nähe der Diakonissenanstalt, einem großen Krankenhaus. Sie wohnen bereits über zwei Jahrzehnte in demselben Haus, in dem sie zweimal umgezogen sind, einmal ganz nach oben in eine größere Wohnung, und vor sieben Jahren in die frei werdende Erdgeschosswohnung, da ihnen das Treppensteigen zu mühselig geworden war.
Er drückt eine der Speichertasten, um die Eltern anzurufen. Seine Mutter meldet sich. Sie überschüttet ihn mit den üblichen Klagen, er komme nie zu ihnen und melde sich selten, dann erzählt sie ihm, wer von ihren Bekannten in der letzten Zeit gestorben ist.
Stolzenburg hört ihr geduldig zu, die Namen sagenihm nichts. Seine Eltern hatten fünf Jahre nach dem Ende seines Studiums einen Ausreiseantrag gestellt und übersiedelten wenige Monate später von Meiningen nach Flensburg. Sein Vater war in Meiningen einer der Geschäftsführer der örtlichen Brauerei und saß jahrelang im Ortsvorstand der CDU , für eine Wahlperiode war er sogar Mitglied im Stadtrat. Als vor Jahren bei einer der wöchentlichen Sitzungen im Rathaus der Bürgermeister die Ratsmitglieder darüber informierte, dass auch in ihrer Stadt einige Jugendliche, offenbar angestachelt von einem der Pfarrer, bei einem Rockkonzert die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes verlangten und jener Pfarrer am vergangenen Sonntag gegen die Stationierung von sowjetischen Kurzstreckenraketen gepredigt habe, hatte sein Vater in der anschließenden Diskussion ein gewisses Verständnis für die Sorgen der Bürger geäußert, da in der Stadt das Gerücht aufgekommen sei, einer der Raketenstützpunkte werde in unmittelbarer Nähe ihrer Heimatstadt errichtet. Er war vom Bürgermeister daraufhin scharf zurechtgewiesen worden. Keiner der Stadträte nahm zu der kurzen Auseinandersetzung Stellung, doch hatte sein Vater den Eindruck, man würde sich am Ende der Sitzung besonders herzlich von ihm verabschieden. Ein Kollege fasste ihn um die Schulter und meinte lächelnd zu ihm, was er gesagt habe, sei sehr gut gewesen, aber nicht sehr klug. Noch in der Nacht wurde der Vater zu einem Verhör abgeholt, durfte aber nach zwei Stunden nach Hause gehen. Zwei Tage später teilte ihm der örtliche Chef seiner Partei mit, er habe ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet, und einen Tag später wurde er aus der Geschäftsführung der Brauerei entlassen. DerBetriebsdirektor erklärte ihm, er könne in der Brauerei bleiben, jedoch nur als ungelernter Arbeiter in der Mälzerei. Vater kündigte daraufhin, und eine Woche später stellte er für sich und seine Frau einen Ausreiseantrag, der ungewöhnlich schnell beantwortet und genehmigt wurde. Die Eltern konnten bereits vier Monate später nach Flensburg ziehen, wo ein Cousin des Vaters der Miteigentümer einer Aktiengesellschaft war, die Maschinen für die Getränkeindustrie herstellte und den erfahrenen Braumeister aus Meiningen sofort einstellen ließ.
Rüdiger Stolzenburg hatte ein Jahr zuvor seine Dissertation zu Joseph von Eichendorff erfolgreich verteidigt, war weiterhin Assistent an der germanistischen Sektion der Humboldt-Universität, unterrichtete die Erstsemester und arbeitete an seiner Habilitation. Eine Dozentur war ihm in Aussicht gestellt, doch nach der Ausreise der Eltern zerschlug sich diese Hoffnung. Der Sektionsleiter teilte ihm zu Beginn des Herbstsemesters vertraulich mit, er habe aus dem Prorektorat eine Aktennotiz erhalten, wonach der wissenschaftliche Assistent Stolzenburg für eine Dozentur an der Humboldt-Universität politisch ungeeignet und der in einem halben Jahr auslaufende Vertrag mit ihm nicht zu verlängern sei. Tatsächlich erhielt er im Dezember ein Schreiben des Rektorats, in dem es begründungslos hieß, seine Assistenzzeit ende im Februar, sein Antrag auf Verlängerung sei abschlägig beschieden worden. Noch am selben Tag telefonierte er mit dem Chef eines großen Leipziger Verlages, den er bei seinen Recherchen zu Eichendorff kennengelernt und der ihm damals das Lektorat Klassische deutsche Literatur angeboten hatte. Er fragte, ob das Angebot desVerlegers noch gelte, und erzählte, als der Verleger dies bestätigte, vom unerwarteten Ende seiner Universitätslaufbahn, die wohl der Ausreise seiner Eltern geschuldet war. Er wollte ihm nichts
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