Weiskerns Nachlass
zu sein, doch sie ist offenbar nicht allein im Raum, und so verabreden sie sich rasch für den übernächsten Abend, sie wollen sich um sechs Uhr abends im Puschkin in der Liebknechtstraße treffen.
In der Post ist ein Brief von Jürgen Richter, dem Frankfurter Verleger. Er teilt ihm mit, Stolzenburg möge die Manuskripte auf seine Rechnung kaufen, das Geld solle er vorstrecken, er bekomme es von ihm ersetzt, sobald das Geschäft über die Bühne gegangen sei. Die Manuskripte würde er in seinem Archiv verwahren, doch Stolzenburg könne sich Kopien anfertigen und dürfe sie auch veröffentlichen. Der Brief endet mit einer Frage: »Wie steht es mit unserem Weiskern, wann erscheint Ihr Prachtstück?«
Er lacht bitter und setzt sich wieder an den Schreibtisch, um weiter Praktikumsberichte durchzusehen, die bereits seit zwei Wochen auf seinem Schreibtisch liegen.
Am Freitag trifft er sich mit Henriette. Für ihre Verabredung hat er sich umgezogen und am späten Nachmittag nochmals rasiert, er ist nervös und aufgeregt wie ein Achtzehnjähriger. Als sie sich begrüßen und er sie auf die Wange küssen will, streckt sie ihm die Hand entgegen und stößt ihn dadurch ungewollt zurück. Sie spricht ihn mit Sie an, er korrigiert sie, man sei doch bereits einen Schritt weiter, und sie entschuldigt sich. Dann reden sie über Marion, und er fragt sie nach ihrer Arbeit.
Stolzenburg achtet darauf, nicht zu viel zu sprechen und nicht wieder zu hastig und schnell. Sie trinken Kaffee, und er lädt sie zu einem Cognac ein. Sie trägt einen schmalen Goldring an der rechten Hand, einen einfachen Ring ohne Stein oder Verzierungen, der ihm bereits bei der ersten Begegnung aufgefallen war. Er greift nach ihrer Hand und fragt sie, was das für ein Ring sei, ein Ehering vielleicht. Es sei ein Schutzring, erwidert sie, da sie jeden Tag viele Menschen treffe und einige Männer offenbar keine Gelegenheit auslassen können, sei es hilfreich, im Gespräch mit ihnen und bei einer sich anbahnenden Belästigung die Hand mit dem Ring einzusetzen. Wenn sie in der Unterhaltung mit einem allzu aufdringlichen Besucher nebenbei an dem Ring drehe, helfe ihr das mehr als ein lautstarker Protest oder andere Zurechtweisungen.
»Du bist also nicht verheiratet«, sagt er.
»Nein, bin ich nicht. Zwei Ehen habe ich gottlob hinter mir, und derzeit bin ich seit einem Jahr allein. Und ich genieße es.«
»Verstehe ich«, sagt er, »ich war nur einmal verheiratet und bin auch ganz gern allein. Oder doch zeitweise.«
»Was war mit deiner Frau? Warum habt ihr euch getrennt?«
»Zerrüttete Ehe, das war die abschließende amtliche Feststellung. Aber zerrüttet war eigentlich gar nichts, wir hatten uns nur nichts mehr zu sagen. Und wir haben uns damals auch tagelang nichts gesagt. Wochenlang, sie nicht, ich nicht. Das war eine Form von Terror, den wir da gegenseitig aneinander ausübten. Ein vorsätzliches Schweigen, das ist etwas Fürchterliches.«
»Hast du Kinder?«
»Eine Tochter. Sie war bei der Scheidung zwanzig und lebte nicht mehr bei uns. Ich habe wenig Kontakt mit ihr, hat sich so ergeben. Sie lebt in Kassel, wann komme ich schon mal nach Kassel. Sie war ein Mutterkind, hat sich bei der Scheidung gegen mich ausgesprochen und zu ihrer Mama gehalten, obgleich die beiden wie Hund und Katz sind. Sie lieben sich und hassen sich, das war immer so. Schon als Judith noch ganz klein war, war ihre Mama ihr Ein und Alles und gleichzeitig die Person, gegen die sie all ihre Aggressionen richtete. Ich weiß nicht, wie sie mit ihrem Freund zusammenlebt, das ist ein sehr ruhiger Computerfreak, ein Mexikaner, der wenig sagt, insofern ist er vermutlich wenig als Blitzableiter geeignet, und Judith braucht einen, bei dem sie alles abladen kann, wo sie mit all ihrer Energie einschlägt und etwas zurückbekommt. Aber ich rede schon wieder zu viel. Was ist mit dir? Verheiratet bist du nicht mehr, hast du Kinder, hast du einen Freund?«
»Keine Kinder, kein Freund, nur einen Schutzring.«
»Das klingt nicht gut. Hört sich sehr einsam an.«
»Ich habe Freundinnen, ich bin nicht einsam. Und ich bin gern allein, nicht nur zeitweise. Das erste Mal war ich neun Jahre verheiratet, die zweite Ehe hielt nur drei Jahre, und ich war am Ende froh, geschieden zu sein. Und bin froh, kein Kind mit gescheiterten Ehen oder mit einem verschwundenen Vater zu belasten. Nein, ich habe kein Kind, leider, es fehlt mir, es fehlt mir manchmal sehr, und doch bin ich zufrieden, die Ehen ohne
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