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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Sammlers verschwindet, dem diese Briefe nichts bedeuten, für den sie nur eine Wertanlage darstellen, ein weiteres Aktienpaket. Wir sehen uns.«
    Stolzenburg sitzt nach dem Gespräch verstört und leicht benommen in seinem Schreibtischsessel. Aberte hat ihm gefallen, seine Stimme weckte Vertrauen, seine Neugier gegenüber der Weiskern-Forschung überraschte und schmeichelte ihm. Ein nicht ungebildeter, sympathischer Zeitgenosse, die Unterhaltung mit ihm war anregend, und er hat überhaupt nicht den Eindruck, da sei ein Kerl zu Gange, dem es nur um Geld geht. Was, wenn dieser Krebs aus Wien unrecht hat, wenn Aberte genau der ist, als der er sich bei ihm vorstellte, wenn der Magister vom Auktionshaus ihn über den Tisch ziehen will?
    »Und er kann lächeln und lächeln und doch ein Schurke sein«, sagt er laut zu sich selbst, doch er ist verunsichert. Er ruft Henriette im Rathaus an, fragt sie, wann sie sich sehen können und ob sie Karten für den »Holländer« bestellt habe. Sie vertröstet ihn auf später, sie werde sich nach der Arbeitszeit bei ihm melden.
    »Darf ich dich heute Abend von der Arbeit abholen?«, fragt er.
    »Ich rufe zurück«, erwidert sie und legt auf.
    Stolzenburg ist beunruhigt, Henriette war sehr kurz angebunden, aber er sagt sich, sie war in einem Gespräch oder ihr Chef stand im Zimmer und sie wollte kein Privatgespräch führen. Er setzt sich an den Computer, um die Post durchzugehen und zu beantworten. Er findeteine E-Mail von Frieder Schlösser, der Chef erinnert ihn und drei Kollegen an die Modulhandbücher, die bis zum Jahresende überarbeitet sein müssen. Er ermahnt alle vier Mitarbeiter, spätestens bis zum Fünfzehnten des Monats ihren Teil bei ihm abzuliefern.
    Stolzenburg schlägt erbost auf die Tastatur ein, dieses Handbuch wird ihn die nächsten Wochenenden kosten, denn er muss Zeile für Zeile die alte Ausgabe prüfen, muss nachschlagen, telefonieren, jeden Satz prüfen. Eine einzige falsche oder auch nur ungenaue Angabe könnte juristische Folgen haben, die Studenten gehen neuerdings gern vor Gericht, um ihre vermeintlichen Ansprüche durchzusetzen. Man muss sein Diplom nicht mit Fleiß und bestandenen Prüfungen erwerben, man kann, etwas Geld vorausgesetzt, es auch vor einem Gericht erstreiten, Schlösser hat alle Dozenten eindringlich gewarnt. Und nun ist dieses Handbuch wieder zu überarbeiten, und er weiß jetzt schon, dass er bei dieser Arbeit unaufhörlich sich und das Institut verfluchen wird.
    Nach dem Mittagessen fährt er für eine Stunde ins Institut, Annika Wöble, eine Studentin, hatte vor einer Woche um einen Termin gebeten. Sie ist zwanzig und vor einem Jahr aus einem Dorf im Schwarzwald ans Institut gekommen, sie hat Schwierigkeiten in der Stadt, fühlt sich von den Kommilitoninnen gemobbt und sitzt als ein Häufchen Elend in seinen Veranstaltungen, schaut ihn unentwegt an, weil sie wohl von alldem, was er ihnen erzählt, nichts versteht. Sie ist ein hübsches junges Mädchen, das seinen Babyspeck noch nicht losgeworden ist, und er ist sicher, sie wird das Studium irgendwie zu Ende bringen, rasch zurück in den Schwarzwald fahren, heiraten, sich in den nächsten dreiJahrzehnten um den Nachwuchs kümmern und nie wieder ihre kleine spitze Nase in ein Buch stecken.
    Von Sylvia hat er sich den Schlüssel für die Bibliothek geben lassen und sie gebeten, Annika Wöble dorthin zu schicken. Als die Studentin schüchtern anklopft, ruft er sie herein und bittet sie, sich zu setzen. Sie zieht ihren Mantel aus und kommt verschüchtert zu ihm an den Tisch. Er lächelt sie aufmunternd an, sie setzt sich, senkt den Kopf und spielt mit den Fingern.
    »Was haben wir?«, erkundigt er sich freundlich. »Probleme, bei denen ich Ihnen helfen kann?«
    Sie wird feuerrot, hebt für eine Sekunde den Blick und starrt dann wieder stumm auf ihre Finger.
    »Lassen Sie sich Zeit. Wir haben Zeit«, sagt er und greift nach einer Zeitschrift auf dem Tisch, betrachtet die Titelseite, legt das Heft zurück und schließt die Augen. Er überlegt, was er Henriette heute Abend sagen soll, doch unaufhörlich beschäftigt ihn dieser Aberte, die bedrohliche Mitteilung von Magister Krebs, das wundersame Auftauchen von Weiskern-Briefen, die ihn elektrisiert und erregt hatten und die ihn nun in ein kriminalistisches Unternehmen stürzen. Dieser Aberte will ihn betrügen, will ihm fünfzehntausend Euro für wertlose Papiere aus der Tasche ziehen, ausgerechnet ihm, der nichts besitzt, dem das Finanzamt im

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