Weiskerns Nachlass
verlassen. Falls Aberte, wie er vermute, einen neuen Treffpunkt nennt, so solle er ihm klarmachen, dass er keine Zeit habe und in die Uni zurück müsse, damit der Kerl keinesfalls noch einen dritten Ort nennt. Nach dem Telefonat im Hotelfoyer solle er sein Handy für ein, zwei Stunden unbedingt wieder ausschalten, um für Aberte unerreichbar zu sein.
»Und wer ist dieser Weiskern? Können Sie mir etwas über ihn erzählen, ich sollte etwas über ihn wissen.«
»Gern. Wenn Sie drei Tage Zeit haben, kann ich Ihnen alles erzählen.«
Hittich lacht: »Ein paar Sätze reichen. Was ist das Besondere an diesem Weiskern? Was machte er? Wann lebte er?«
Stolzenburg geht zu seinem Computer und druckt drei Seiten aus, die er dem Kommissar übergibt: »Lernen Sie das hier auswendig. Mehr weiß dieser Aberte auch nicht von ihm.«
»Danke. Ach, und noch eins, falls im Hotel irgendjemand Ihren Namen nennt oder nach Ihnen ruft, so sollten Sie sich nicht einmal bewegen, denn im Hotel bin ich es dann, der sich umdreht oder aufsteht. Und vergessen Sie nicht, das Handy erst einzuschalten, wenn Sie mich in der Hotelhalle sehen.«
Er bietet ihm an, ihn mit seinem Wagen mitzunehmen und in der Nähe des Hotels abzusetzen, was Stolzenburg aber ablehnt, und gibt ihm ein kleines vergoldetes Knopfmikrofon, das er sich wie ein Schmuckstück an den Kragen stecken soll. In den nächsten Tagen würde er sich noch einmal bei ihm melden, um ihm vomAusgang der Angelegenheit zu berichten und das Mikrofon abzuholen.
»Gut wäre es, wenn Sie nicht allein ins Hotel gehen. Wenn Sie dort mit einem Freund, einer Freundin sitzen, wäre das unauffälliger.«
Stolzenburg denkt an Henriette und schüttelt den Kopf.
»Wissen Sie, was mich das alles kostet?«, fragt er gereizt. »Ich habe eine Arbeit, ich müsste in einer Stunde im Institut sein.«
»Wenn es einen anderen Weg gebe, glauben Sie mir, ich würde Sie liebend gern außen vor lassen und es nur mit Polizeikräften abwickeln.«
»Wie viele Polizisten werden im Hotel sein?«
Hittich lächelt: »Herr Stolzenburg, wir leisten den Wiener Kollegen Amtshilfe, aber es muss im Rahmen des Machbaren bleiben. Nein, ich agiere allein. Allein mit Ihnen. Seien Sie rechtzeitig im Hotel, wie gesagt, eine halbe Stunde eher wäre gut, noch besser eine Stunde, denn Aberte wird den Raum schon vorher im Blick haben.«
Stolzenburg versucht sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, nachdem der Kommissar gegangen ist, aber es gelingt ihm nicht. Er schaut auf die Uhr, es ist zehn, er hat noch Zeit, er muss sich erst in eineinhalb Stunden auf den Weg machen, um wie gewünscht vorzeitig in der Hotellobby zu sitzen, doch das ihm Bevorstehende, diese polizeiliche Maßnahme, eine Verhaftung vermutlich, in die er gegen seinen Willen hineingezogen wurde, beschäftigt ihn. Er bezweifelt inzwischen, dass mit seinem Besuch im Hotel für ihn die Geschichte beendet ist. Er hätte von dem Kommissar eine Waffe verlangen sollen. Vielleicht sollte er ein Messer einstecken, schließlich hatte Hittich von Bandenkriminalität und organisiertem Verbrechen gesprochen oder doch als Möglichkeit angedeutet. Er würde gern mit einem Freund, einer Freundin darüber sprechen, aber mit Patrizia ist das unmöglich, da ist etwas anderes zu bereden. Henriette wäre sicher ein guter Partner, aber er kennt sie zu wenig und weiß nicht einmal, ob sie sich wiedersehen werden, ob sie ihm vertraut. Wenn er jetzt zu Henriette fahren und sie bitten würde, mit ihm ins Radisson zu gehen, wenn er ihr diesen lächerlichen Polizeikrimi erzählen würde, bedeutete das vermutlich das Ende. Er ist genötigt, bei einer verdeckten Ermittlung mitzuspielen, und er kann keinem darüber erzählen. Die Vorstellung, seine Kollegen oder gar seine Studenten würden davon erfahren, verursacht einen Schweißausbruch, er würde ihm für Monate oder Jahre anhängen, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit würde man von seiner Gangsterjagd sprechen.
Der Vormittag vergeht, ohne dass er eine Zeile zu Papier gebracht hat, er ist sogar unfähig, sich mit dem Modulhandbuch zu beschäftigen, und ist fast erleichtert, als es halb zwölf ist, er sich anzieht, nach dem Sturzhelm greift und sein Fahrrad besteigt. Verabredungsgemäß nimmt er kein Buch mit, unterwegs kauft er sich an einem Kiosk zwei Tageszeitungen. Viertel nach zwölf betritt er das Radisson. An der Rezeption stehen mehrere Menschen, eine Reisegruppe offenbar, die einchecken will. Auf den über das Foyer
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