Weiskerns Nachlass
er hofft, dass ihr lautstarker Auftritt nicht diesen Aberte verscheucht, denn dann würden die Scherereien weitergehen, er würde weiter mit dessen Angeboten und mit der Kriminalpolizei zu tun haben. Misstrauisch schaut er zum Hoteleingang, das Mädchen scheint wirklich verschwunden zu sein.
Drei Minuten nach eins kommt ein Mädchen von derRezeption in den Lobbybereich und fragt nach einem Herrn Dr. Stolzenburg, wobei sie sich im Raum umsieht. Stolzenburg zwingt sich, nicht aufzusehen, nimmt die Zeitung hoch, so dass sein Gesicht hinter dem Blatt verborgen ist. Sekunden später klingelt sein Handy. Nach dem dritten Klingeln meldet er sich. Aberte ist am Apparat und fragt, wo er sei.
»Im Hotel, gegenüber der Rezeption. Und wo sind Sie?«
»Es tut mir leid, Herr Stolzenburg, ich muss Sie um einen großen Gefallen bitten. Ich hatte noch ein weiteres Gespräch und bin derzeit im Paulaner, könnten Sie in den Paulaner kommen. Sie wissen, wo das ist? Ich glaube, die Straße heißt Klostergasse.«
»Herr Aberte, ich kenne den Paulaner, aber wir waren für ein Uhr hier verabredet, hier im Radisson. Ich werde zum Paulaner kommen, aber das kostet Zeit, und ich muss so schnell wie möglich ins Institut zurück. Also, ich mache mich auf den Weg, aber lassen Sie mich nicht warten, ich habe wenig Zeit, und ich kann die Briefe nicht kaufen, wenn ich sie zuvor nicht eingehend geprüft habe. Ich muss den Ankauf verantworten.«
»Danke. Ich erwarte Sie im Paulaner. Ich steh dann ganz zu Ihrer Verfügung.«
Aberte legt auf, Stolzenburg hält das Handy weiter am Ohr, um den Eindruck zu erwecken, noch immer zu telefonieren, wobei er die Zeitung auf den Tisch zurücklegt. Aus dem Augenwinkel sieht er Hittich durch die Hoteltür hinausgehen. Kurz darauf verlassen nacheinander zwei weitere Gäste das Hotel, einer von ihnen blickt noch einmal zu den wenigen Personen in der Lobby. Stolzenburg hat den Eindruck, von ihm misstrauisch gemustert zu werden, und spricht scheinbar erregt in sein Handy. Nach zehn Minuten ruft er den Kellner und bezahlt. Er zieht seine Jacke an, wobei er mit der Hand das Mikrofon berührt, er nimmt es vom Kragen ab, um es im Portemonnaie zu verstauen, dann holt er es noch einmal hervor, schaut sich um, hält den kleinen vergoldeten Knopf dicht vor den Mund und sagt: »Viel Glück, Herr Hittich.«
Er greift nach dem Sturzhelm, die Zeitungen lässt er liegen und verlässt das Hotel, erleichtert durch die Hoffnung, nie wieder mit Aberte zu tun zu haben. Den Nachmittag verbringt er am Schreibtisch, und er kann sich wieder auf die Arbeit konzentrieren und kommt voran. Es droht zwar noch das abendliche Gespräch mit Patrizia, es wird unangenehm werden, aber das muss er durchstehen.
Fast sechs Monate ist er mit Patrizia zusammen. An dem Tag, als er sie kennenlernte, war sie gerade sechs Stunden geschieden und hatte sich am selben Abend entschlossen, auf die freie Wildbahn zu gehen, wie sie ihm später erzählte. Sie hatte ihn sich geangelt, wie sie ihm lachend und freimütig berichtete, und er hatte es hingenommen. Sie war ihm stundenweise angenehm, bot leichten, brauchbaren Sex, war recht niedlich und kaum anstrengend. Sie bewunderte ihn, weil er studiert hatte und an der Universität lehrte, und sie war davon überzeugt, ein Mann mit einem Doktortitel wisse alles über die Welt, einfach alles, stelle sich aber bei praktischen Problemen und den Alltagsfragen linkisch an und sei dafür ungeeignet. Ihr geschiedener Mann war Berufskraftfahrer, praktisch Analphabet, er fuhr einen Linienbus, in ihrer Wohnung befand sich kein einziges Buch, dafür im Wohnzimmer eine ganze Wand mit einem Regal voller Videokassetten und DVD s. Bei der Scheidung ging es vor allem um das Auto und dieses Regal, der Ehemann wollte das Auto und seine Lieblingsfilme, Patrizia war bereit, auf den Wagen, doch auf keinen der Filme zu verzichten, und da beide hartnäckig auf ihren vermeintlich gerechten Anspruch pochten, wäre die Scheidung fast geplatzt.
Stolzenburg hat sie gern, aber er liebt sie nicht, wie er ihr, wann immer sie ihn fragt, unverblümt eingesteht, was sie keineswegs davon abhält, bei ihm zu bleiben. Ihm ist unklar, ob sie hofft, dass sich bei ihm so etwas wie Liebesgefühle einstellen werden. Am Abend, weiß er, wird sie ihm eine Szene machen, wird schreien oder heulen, vielleicht auch beißen und kratzen, das muss er über sich ergehen lassen, aber er hat keine Schuldgefühle. Sie waren während des halben Jahres gelegentlich
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