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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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verteilten Sesseln und voluminösen Sofas sitzen nur drei Personen. Er sucht sich einen gut sichtbaren vereinzelten Sessel mitten im Raum, von dem aus er die Eingangstür und die Fahrstühle im Auge hat, bestellt, als ein Kellner kommt, einen Kaffeeund ein Wasser und blättert die Zeitungen durch. Er zwingt sich, nicht aufzusehen, bemüht sich, den Eindruck zu erwecken, er studiere äußerst genau jeden Artikel, und er streicht einzelne Zeilen an. Das Handy hat er stumm geschaltet, es liegt neben dem kleinen Berg aufgeblätterter Zeitungen.
    »Guten Tag, Herr Doktor Stolzenburg«, trompetet plötzlich hinter ihm eine piepsige Mädchenstimme. Er fährt herum, an dem Tisch in seinem Rücken sitzt Annika Wöble. Fassungslos starrt er sie an. Er weiß nicht, ob das Mädchen zufällig in dieser Hotellobby sitzt, ob sie ihn verfolgt hat oder irgendetwas mit Aberte zu tun hat. Er ist sicher, sie hat noch nicht an dem Tisch gesessen, als er das Hotel betreten hat.
    »O Gott«, stöhnt er und vertieft sich in seine Zeitungslektüre.
    Annika Wöble steht auf und kommt an seinen Tisch, sie sieht ihn eigentümlich eindrücklich an, als stehe sie unter Drogen, und sagt: »Kann ich Sie sprechen, Herr Doktor Stolzenburg?«
    Er wirft ihr einen kurzen Blick zu, dann schaut er an ihr vorbei und sagt: »Nein, Fräulein Wöble, das können Sie nicht. Und ich möchte von Ihnen auch nicht weiter belästigt werden. Ich habe eine Sprechstunde, wenn Sie mich da sprechen wollen, melden Sie sich bei der Sekretärin an, aber ich sage Ihnen schon jetzt, ich werde nie wieder unter vier Augen mit Ihnen sprechen, nur noch unter Zeugen. Verstehen Sie mich?«
    »Ich muss Sie aber gleich sprechen.«
    »Sie stören.«
    Annika Wöble bleibt trotzig stehen, starrt Stolzenburg an und scheint ihre Umgebung nicht wahrzunehmen.
    »Ich muss Sie sofort sprechen.«
    Ihr piepsiger Tonfall wird schrill und laut, Stolzenburg ist an das bellende Kreischen des rothaarigen Mädchens erinnert. Mit dieser hohen, durchdringenden Stimme hatte die Verrückte ihn angeschrien, bevor sie ihre Kette hervorholte und ihm über den Kopf schlug. Er sieht die Studentin verärgert und finster an, bemüht sich, sie einzuschüchtern, und gleichzeitig, sie nicht aus den Augen zu lassen, um nicht von ihr überrascht zu werden. Drei Gäste vom Nachbartisch schauen sich nach ihnen um.
    »Gehen Sie«, sagt er ruhig, »gehen Sie ganz schnell. Lassen Sie mich in Frieden.«
    »Ich gehe erst, wenn Sie mir zugehört haben«, kreischt das Mädchen.
    Im gleichen Moment sieht er, wie Hittich mit einem dicken Buch unterm Arm die Hotelhalle betritt, seinen Blick durch den Raum schweifen und keinen Moment bei ihm verharren lässt und sich dann an einen Tisch zwischen Eingangstür und Rezeption setzt.
    »Gehen Sie endlich«, zischt Stolzenburg das Mädchen an.
    Der junge Kellner kommt mit fragendem Blick einige Schritte auf sie zu.
    »Kann ich helfen? Wünschen Sie etwas?«
    »Ich werde belästigt«, sagt Stolzenburg, »ich werde von dieser Person belästigt. Sorgen Sie bitte dafür, dass ich meine Ruhe habe.«
    Der junge Kellner wendet sich an das Mädchen: »Sind Sie Hotelgast?«
    »Ich muss Herrn Doktor Stolzenburg sprechen, unbedingt, sofort«, erwidert sie trotzig.
    »Bitte, gehen Sie. Unsere Gäste wollen nicht gestört werden.«
    »Ich muss Sie sprechen«, wiederholt sie eindringlich.
    Der Kellner berührt ihren Arm: »Bitte, machen Sie sich und uns keinen Ärger. Wenn Sie nicht gehen, muss ich unseren Sicherheitsdienst rufen.«
    Das Mädchen verstummt, dreht sich ruckartig um und geht mit großen Schritten zum Ausgang, sie verlässt das Hotel, ohne sich noch einmal zu Stolzenburg umzudrehen.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigt sich der Kellner.
    »Ja«, bestätigt Stolzenburg, »ich danke Ihnen.«
    Er schaut kurz zu Hittich, der scheinbar nichts von dem Auftritt der Studentin mitbekommen hat.
    Kurz vor eins bestellt er einen zweiten Kaffee. Er bemüht sich, nicht zu Hittich zu blicken, und nur, wenn er die Kaffeetasse anhebt, um daraus zu trinken, gerät ihm der Kommissar wie zufällig in die Augen. Noch immer starrt er auf einen Zeitungsartikel, ohne ein einziges Wort zu lesen. Das Auftauchen von Annika Wöble beunruhigt ihn. Er ist sicher, dass sie nichts mit Aberte zu tun hat, dass sie zufällig im Hotel aufgetaucht ist oder weil sie ihm nachgegangen ist, ihn verfolgt hat. Er entschließt sich, so bald wie möglich zu Schlösser zu gehen, um ihn über diese Nachstellungen zu informieren, und

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