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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Ein Grundstück, ein Haus?«
    »Nein, ich besitze nichts. Ich muss sehen, wie ich klarkomme. Was schulde ich Ihnen?«
    »Nichts, Sie schulden mir gar nichts. Das war ein Gefallen für Marion, für meine Lieblingscousine.«
    Er gibt Stolzenburg drei Formulare.
    »Reichen Sie den Ratenplan in den nächsten Tagen bei Ihrem Sachbearbeiter ein, dem Herrn Kerzer. Das ist ein ganz umgänglicher Mensch, ich jedenfalls habe mich prächtig mit ihm unterhalten. Und ich hatte recht, er glaubte, Sie haben noch irgendwelche Einnahmen. Er war misstrauisch, ihm erschien es ausgeschlossen, dass Sie so wenig verdienen.«
    »Aber er muss doch wissen, was die Leute heute in der Tasche haben.«
    »Sicher, weiß er besser als wir, doch er meinte, ein studierter Mensch, ein Mann von der Uni, der müsste irgendwelche Einnahmen jenseits der Bedürftigkeit haben. Ich hatte Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass bei Ihnen nichts zu holen ist.«
    »Bedürftigkeit?«
    »Entschuldigen Sie, der Ausdruck Armutsgrenze macht die Sache auch nicht besser.«
    »Und warum hat dann Herr Kerzer nicht die ganze Forderung gestrichen, wenn er schon von Bedürftigkeit redet?«
    »Er muss seine Entscheidung innerhalb des Amts vertreten. Finanzämter sind bekanntlich keine Mäzene und keine Sozialeinrichtungen. Wir können zufrieden sein. Mehr als nur zufrieden, Herr Stolzenburg, ich habe, wie gesagt, eine Halbierung von Steuerforderungen bisher noch nie erlebt. Nehmen Sie noch einen Kaffee?«
    »Ich will Sie nicht aufhalten. Sie haben mir schon so viel Zeit geopfert und haben sicher zu tun.«
    »Ich habe Zeit, Herr Stolzenburg, ich muss in zwei Stunden noch einmal an den Computer, um zu schauen, was ich mittlerweile verdient habe. Also, noch einen Kaffee? Einen Espresso, einen Cappuccino?«
    »Einen Espresso gern. Wenn es keine Mühe macht.«
    »Kein Problem.«
    Er geht aus dem Zimmer, Stolzenburg hört ihn mit jemandem reden, dann kommt er zurück: »Einen Moment, er wird sofort serviert.«
    »Und was wollen Sie von mir wissen? Sie sagten eben   …«
    »Leute wie Sie, Herr Stolzenburg, erwecken meine Neugier.«
    »Meine Arbeit? Hat Ihnen Marion davon erzählt?«
    »Wenig. Ich weiß nur, Sie sind Dozent an der Uni, sind, wie Marion sagt, sehr fleißig, arbeiten sozusagen Tag und Nacht für einen Hungerlohn. Warum? Wieso verdienen Sie so wenig? Oder ist das jetzt zu intim?«
    »Warum ich so wenig verdiene? Ich habe nur eine halbe Stelle. Immerhin ist es eine feste halbe Stelle, das ist sehr viel mehr, als Marion hat. Mir wurde immer wieder eine volle Dozentur versprochen. Eine Professur stand nie in Aussicht, aber ich sollte Akademischer Rat werden, doch mittlerweile darf ich auch damit nicht mehrrechnen. Ich habe mich abgefunden mit dem, wie Sie sagen, Hungerlohn.«
    »Aber warum? In meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der für das Geld, das Sie verdienen, auch nur aufstehen würde. Ich kenne viele Leute, das bringt der Beruf so mit sich, einige arbeiten siebzig Stunden die Woche, das ist normal, andere arbeiten zwei Tage in der Woche. Einige verdienen gut und sehr viel, die anderen weniger, sehr viel weniger, aber keiner von ihnen würde sich mit dem begnügen, das Sie bekommen.«
    »Ihre Cousine«, widersprach Stolzenburg, »Marion.«
    Eine Frau kommt ins Zimmer, auch sie ist barfuß und trägt einen Bademantel. Stolzenburg sieht sie überrascht an. Er hätte als Freundin von Klemens Gaede ein kleines Mädchen erwartet, eine hübsche, eher puppenhafte Blondine, aber diese Frau ist stolz, selbstbewusst, sie irritiert ihn, und er hofft, dass sie sich zu ihnen setzt. Doch sie grüßt Stolzenburg nur freundlich mit einem Kopfnicken, stellt ein kleines Tablett mit zwei winzigen Tassen auf den Tisch und verschwindet. Gaede sieht ihr entzückt nach, nimmt eine Tasse und reicht sie Stolzenburg.
    »Ja, die Marion«, sagt er gedehnt, »vermutlich will ich es ihretwegen wissen. Sie ist eine intelligente Person, die klügste Frau in der ganzen Familie, aber wie sie lebt, wie Sie und Marion leben, ist mir ein Rätsel. Jahrelang studieren und dann für einen Hungerlohn arbeiten. Ich habe vor zwei Jahren Marion einen Job angeboten, weil ich vorhatte, meinen kleinen Service zu erweitern, Finanzanlagen mit Garantien anzubieten, und dafür brauchte ich eine absolut vertrauenswürdige Person. Das war für mich Marion. Eine Woche hat sie hier gearbeitet. Sie hat sich in Ihrem Institut Urlaub genommen, um bei mir anzufangen, sie wollte es drei Wochen lang ausprobieren. Nach

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