Weiskerns Nachlass
zum Bahnhof. Diese energische Frau Merlitz, und sie heißt auch noch Henriette, wird seiner Mutter guttun, sie kann ihr helfen, wird Mutter den Rücken stärken, und Vater wird nicht aufmucken, wenn dieserDragoner etwas sagt, sondern parieren. Vielleicht ist es ein Glücksfall, dass sie ins Heim gingen.
Er ist erst nach zehn in der Wohnung. Am Bahnhof hat er sich noch frisch aufgebackene Brötchen gekauft, die er isst, während er am Schreibtisch sitzt und die E-Mails durchgeht und gleichzeitig den Anrufbeantworter abhört. Die E-Mails der Studenten löscht er umgehend, die anderen überfliegt er und löscht oder sortiert sie. Er unterbricht sich dabei nur, um den interessanten Anrufen zu lauschen. Henriette hat nicht angerufen, aber Klemens Gaede. Auf dem Band meldet er sich mit seinem Namen und sagt nur: »Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Rufen Sie bitte zurück.«
Stolzenburg schaut sich den Rest der E-Mails nicht mehr an, er schaltet den Computer aus, hört sich noch zweimal die viel versprechende Nachricht von Gaede an, holt einen Weißwein aus dem Kühlschrank und setzt sich ins Wohnzimmer. Er schaut nicht fern, er hört keine Musik, er sitzt nur erleichtert im Sessel und trinkt die halbe Flasche leer.
Fünfzehn
Er wird früh wach, noch im Bett denkt er sofort an Gaede und dessen Ankündigung. Er muss sich zwingen, sich nicht zu früh bei Gaede zu melden. Punkt neun Uhr ruft er ihn an, Gaede ist am Apparat und bittet ihn, bei ihm vorbeizukommen, er müsse ihm einiges erklären.
»Ich komme gleich«, sagt Stolzenburg.
Gaede bittet um einen Moment Geduld, er spricht mit einem anderen, dann sagt er: »Bis zehn Uhr wäre es möglich. Wenn Sie in der nächsten halbe Stunde bei mir sein können …«
»Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen, Herr Gaede.«
In dem großen Korridor mit der Palme liegen Flaschen herum und Damenwäsche, um den Baum ist eine Girlande gewickelt, und eine Lichterkette reicht bis zur Glaskuppel. Gaede erscheint nach zwei Sekunden, er trägt einen roten Bademantel und ist barfuß, er entschuldigt sich für die Unordnung.
»Ich arbeite nicht immer«, sagt er grinsend.
Er bittet ihn in denselben Raum, in dem er vor Wochen mit ihm zusammen gesessen und seine Akten durchgegangen war. Auch hier stehen Gläser und halbleere Flaschen auf dem Tisch. Gaede schiebt die Sachen beiseite, nimmt zwei Tassen aus dem Schrank und gießt ihnen Kaffee aus einer Thermosflasche ein.
»Ja, wie gesagt, ich habe gute Nachrichten für Sie, Herr Stolzenburg, sehr gute. Ich bin natürlich aufs Maximale gegangen, auf kompletten Erlass, also vollständige Tilgung der Forderung. Ich habe Ihre finanzielle Situation offengelegt, nochmals eine mögliche Privatinsolvenz ins Spiel gebracht, an der keiner interessiert sein kann, und habe einen, wie ich meine, prächtigen Kompromiss erreicht: Halbierung der Forderung und angemessene Ratenzahlung. Wir haben …«, er greift nach einem Papier auf dem Tisch und liest vor, »wir haben erreicht, dass Sie nur noch fünftausendsiebenhundertzweiundzwanzig Euro an das Finanzamt zu zahlen haben. Für die Rückzahlung dürfen Sie einen Ratenplan erstellen, den Sie beim Finanzamt einreichen, um ihn bewilligen zu lassen. Glatte Halbierung der Schuld, ich hatte nie gedacht, so viel zu erreichen. Halbierung einer Steuerschuld, das habe ich zuvor bei keinem anderen Klienten erreicht, aber bei denen ist auch mehr zu holen.«
Er strahlt Stolzenburg zufrieden an. Als er bemerkt, dass sein Besucher weniger erfreut ist, sagt er irritiert: »Sind Sie nicht zufrieden? Haben Sie mehr erwartet?«
»Ich habe das Geld nicht, ich habe auch nicht die Hälfte von dem Geld.«
»Machen Sie einen Ratenplan. Schreiben Sie einen Brief, in dem Sie verbindlich erklären, wie viel Sie jeden Monat von der Forderung tilgen können. Wenn Sie es innerhalb von einem Jahr schaffen, fallen für Sie keine Zinsen an, im zweiten Jahr kommt ein ermäßigter Zinssatz dazu. Brauchen Sie mehr als vierundzwanzig Monate, müssen Sie für den verbliebenen Rest mit den üblichen Zinsen rechnen. Mehr war nicht drin, und ich finde es sensationell.«
»Ich danke Ihnen, Herr Gaede. Ohne Sie wäre ich verloren. Ich muss sehen, wie ich das Geld auftreibe.«
»Zweihundert Euro im Monat, das müsste doch zu schaffen sein. Allerdings findet das Ganze unter der Voraussetzung statt, dass Sie nicht noch irgendwo ein Konto haben. So ein kleines verschwiegenes? In der Schweiz vielleicht?«
»Leider nicht.«
»Oder eine Erbschaft?
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