Weiskerns Nachlass
Verfassung. Der Vater ist vollkommen klar und sogar gesprächig. Die Wohnung ist unverändert, nichts deutet auf den bevorstehenden Umzug hin. Als er sich erkundigt, wo die Kisten und Kartons der Umzugsfirma stehen, sagt die Mutter, es sei nichts da.
»Aber die Umzugsfirma muss doch Kartons und Kisten liefern für Kleider, fürs Geschirr, für eure Bücher, das gehört dazu. Welcher Verein soll denn den Umzug machen, welche Firma hast du beauftragt?«
»Ach, Junge, sie wollten mir alles Mögliche andrehen, aber ich habe ihnen gesagt, dass du kommst und ich nichts von ihnen brauche. Die sind doch alle viel zu teuer, und außerdem betrügen sie, wo sie nur können.«
»Mutter! Und wie soll ich euer Zeug verpacken? Wie soll ich das Ganze denn einpacken?«
»Meinst du wirklich, dass wir die Kartons und Kisten von denen brauchen?«
»Ach, Mutter!«
Er lässt sich den Vertrag geben und ruft alle Telefonnummern an, die er auf dem Formular findet. Nach dem vierten Anruf meldet sich eine erschöpfte und leise Stimme, er sagt, die Firma werde am Montagmorgen seine Eltern umziehen, aber irrtümlich sei bei der Auftragserteilung kein Verpackungsmaterial bestellt worden, und man verspricht ihm, am nächsten Tag das Gewünschte zu liefern, allerdings erst nach den eigenen Terminen, also nach vierzehn Uhr.
Am nächsten Morgen holt er die Zeitungen aus dem Keller und fängt an einzupacken. Vater kann das Bett nicht verlassen und stört ihn nicht bei der Arbeit, er hört Radio und seine CD s, doch Mutter steht immerfort neben ihm und redet auf ihn ein, fragt nach der Tochter, nach der Universität, nach seinen Freunden. Er versucht so viel wie möglich auszusortieren, aber sie will den Haushalt verkleinern und alles behalten, erklärt bei jedem Stück, das er aus den Fächern und Schubläden hervorholt, weshalb sie gerade dieses Teil keineswegs in den Müll werfen kann. An dem einen haften Erinnerungen, anderes ist Erbe der Großeltern oder war seinerzeit sehr teuer, und es gibt auch unnützen Kram, den sie nur deshalb behalten will, weil er den Krieg überstanden hat und infolgedessen kostbar ist. Mutter ist sehr gekränkt, weil der Sohn ihr klarzumachen sucht, dass sie in die kleine Wohnung im Altersheim, zwei winzigen Zimmern, unmöglich ihren ganzen Haushalt packen könne. Irgendwann weint sie und schließt sich in ihrem Zimmer ein. Als die Kisten und Kartons am späten Nachmittag ankommen, muss Stolzenburg seine Mutter bitten, die Tür aufzuschließen und als Auftraggeber den Lieferschein zu unterschreiben.
Am Abend finden die beiden eine Lösung, mit der auch Mutter einverstanden ist. Sie bestimmt, was in den Sperrmüll kommt, und ihr Sohn soll all die Sachen in die Kisten und Kartons packen, die seiner Meinung nach die Eltern im Altersheim benötigen. Alles, was übrig bleibt, wird sie dann noch einmal durchsehen, ob nicht etwas ausgesondert werden kann, und den Rest wird ihr Sohn gleichfalls verpacken, doch diese Kisten kommen nicht in die beiden neuen Zimmer, sondern werden in denGang oder Keller des Altersheims gestellt. Dann könne Mutter später entscheiden, was sie von diesem Teil behalten will oder kann. Als Mutter versöhnt ist, schneidet er ihr Mobiliar maßstabsgerecht aus einem farbigen Pappdeckel und legt die kleinen Stücke auf den Grundriss, den das Altersheim den Eltern zugeschickt hat. Seine Mutter macht in dieser Nacht kein Augen zu, stundenlang schiebt sie die bunten Pappstücke, die ihr Sohn beschriftet hat, auf dem Plan der beiden Zimmer, in denen sie künftig leben werden, hin und her oder läuft durch die Wohnung, um darüber zu befinden, was sie von ihrem Besitz am nächsten Tag für immer aufgeben wird.
Es ist wenig, sehr wenig, was sie ihrem Sohn am nächsten Morgen zum Wegwerfen gibt, es füllt nicht einmal eine Mülltonne, doch Stolzenburg lächelt und akzeptiert ihre Entscheidung. Bis zum Mittag hat er verpackt, was er als notwendig und nutzbar für die Eltern ansieht, dann verstaut er das restliche Hab und Gut und verwendet dafür Bettbezüge, da die Kisten und Kartons nicht ausreichen. Am Abend sitzen sie am Bett des Vaters und trinken gemeinsam ein Glas Wein auf den Abschied aus ihrer Wohnung. Mutter weint ein wenig, und Vater sagt, dass er diese Wohnung immer gehasst habe, er habe nur einmal eine schöne Wohnung gehabt, aber die hätten ihm die Russen weggenommen.
»Die Russen, Heinrich?«, fragt Mutter.
»Ja, die Russen«, wiederholt der alte Mann trotzig.
»Und wann soll das
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