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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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gewesen sein?«
    »Ach, was weißt du schon.«
    »Aber, Heinrich, wir leben doch ein Leben lang zusammen. Uns hat doch keiner eine Wohnung weggenommen, auch kein Russe.«
    »Dann eben die Amerikaner.«
    »Heinrich!«, sagt Mutter und schaut hilfesuchend zu ihrem Sohn, der hilflos und verlegen lächelt und sich noch ein Glas Wein eingießt.
    »Also, auf das neue Heim«, sagt er, »wann kommen eure Freunde, um Vater abzuholen?«
    »Du meinst Rosel und ihren Mann? Die kennst du doch, Rüdiger, die habe ich dir im vorigen Jahr vorgestellt. Sie haben versprochen, um sieben hier zu sein, eine halbe Stunde vor den Ziehleuten.«
    Bald darauf gehen alle schlafen, Stolzenburg liegt auf Matratzenteilen, die er am nächsten Morgen zum Müllplatz bringen muss.
    Die drei Männer von der Umzugsfirma sind freundlich und höflich, und sie sind schnell. Mittags um ein Uhr stehen die Kisten und Kartons im Altersheim, in den beiden Zimmern und in einem Nebengelass auf der gleichen Etage, und der Wagen der Möbelspedition fährt ab. Stolzenburg baut die Betten der Eltern auf, das halbierte Ehebett für die Mutter und das motorisch verstellbare Metallbett, in dem der Vater seit drei Jahren schläft. Er befestigt und schließt die Deckenlampen an, stellt die aufeinandergestapelten Kartons nebeneinander, damit Mutter sie leichter erreichen kann. Schließlich schaut er sich noch einmal in der Wohnung um.
    »Wie gefällt dir unsere neue Wohnung?«, erkundigt sich seine Mutter, »es ist meine letzte. Und es war mein letzter Umzug. Bei dem nächsten bin ich noch dabei, aber ich mache gottlob nicht mehr mit. Hat auch sein Gutes.«
    »Wann kommt Vater?«, fragt er.
    »Rosel und Berthel bringen ihn um vier, sie wolleneine Landpartie mit ihm machen, haben sie gesagt, an die See. Na, Papa wird staunen, was wir alles geschafft haben. Aber jetzt musst du mir nicht mehr helfen. Fahr zurück, den Rest räume ich allein ein. Ich kann dir heute kein Mittagessen kochen, alle Töpfe sind verpackt, und auf der Herdplatte kann man kein Ei braten. Selbst die Eier müsste ich erst suchen.«
    »Beim nächsten Besuch bringe ich eine richtige Lampe für die Küche mit, das dort ist nur eine Funzel. Lass dir solange eine stärkere Birne geben, du musst ja was sehen. Oder soll ich gleich Bescheid sagen?«
    »Lass nur, Junge, das mach ich schon. Ich muss mich ja heute noch anmelden.«
    Die Türklingel ertönt, ein lautes und schrilles Scheppern. Stolzenburg öffnet die Zimmertür, eine hochgewachsene ältere Frau mit einem kleinen Blumenstrauß steht vor ihm und strahlt ihn an.
    »Sie sind der Sohn«, stellt die alte Frau erfreut fest, »Merlitz, heiße ich.«
    Ihre Stimme knarrt, sie steht aufrecht und stramm vor ihm und mustert ihn nachdrücklich. Dann geht sie an ihm vorbei, reicht der Mutter die Hand und übergibt ihr den Blumenstrauß: »Willkommen in unserem Haus, Frau Stolzenburg.«
    »Kennen wir uns?«
    »Nein, noch nicht. Aber ich habe nachgefragt, ich will doch wissen, wer meine neuen Nachbarn sind. Die Wohnung rechts, das bin ich, Merlitz, Henriette Merlitz. Willkommen, willkommen. Ist Ihr Mann nicht da?«
    »Nein, nein, er wird später gebracht, er ist nämlich bettlägrig.«
    »Ich weiß. Weiß ich doch.«
    »Ich danke Ihnen für die Blumen, Frau Merlitz. Ich würde Ihnen gern etwas anbieten, aber …«
    »Nicht in diesem Tohuwabohu. Ich habe Kuchen besorgt und Kaffee gemacht, wir gehen in meine Wohnung. Schade, dass Ihr Mann nicht da ist, ihn werde ich also später kennenlernen. Ich bin auch mit meinem Mann hier eingezogen. Vor zwei Jahren, aber seit einem Jahr lebe ich allein.«
    »Oh, das tut mir leid …«
    »Nicht was Sie denken. Er ist wieder in die Stadt gezogen. Lebt mit einer anderen Frau zusammen, die ist gerade mal sechzig. Vor Jahrzehnten, da war sie acht, neun Jahre alt, hat er ihr Klavier beigebracht, und nun bringt sie ihm wohl was bei. Kommen Sie zu mir, Sie müssen mal eine Pause machen, und den Herrn Sohn nehmen wir auch mit. Kaffee ist genug da.«
    »Ich weiß nicht, ob Rüdiger noch Zeit hat. Er muss nach Leipzig zurück, er ist dort Professor.«
    »Mama, ich bin kein Professor, ich habe lediglich eine Assistenzdozentur.«
    »Aber du unterrichtest an der Universität, das tun doch die Professoren.«
    »Kommen Sie mit, Herr Stolzenburg, der nächste Zug fährt auch noch.«
    Stolzenburg lacht und schüttelt den Kopf. Er verabschiedet sich von der Mutter und der neuen Nachbarin, bittet, Vater zu grüßen, nimmt seine Reisetasche und eilt

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