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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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einer Woche bekam sie das Geld, das sie bei mir verdient hatte, und das war genau der Betrag, den sie an der Uni in einem halben Jahr bekommt. Ich war sicher, dass ich sie damit überredet hatte, aber sie nahm das Geld und meinte, sie müsse die restliche Probezeit nicht mehr absolvieren, der Job sei eindeutig nichts für sie. Nach einer Woche. Nicht einmal drei Wochen hielt sie durch. Sehen Sie, und das verstehe ich nicht. Sie hätte in den drei Wochen mehr verdient als an der Uni in einem ganzen Jahr.«
    »Marion ist mit Herz und Seele Bibliothekarin. Es ist ihr Lebenstraum.«
    »Und bei Ihnen ist das ähnlich? Ihr Beruf, Ihre Forschungen, die Arbeit mit den Studenten, davon haben Sie von Kindesbeinen an geträumt? Darum wollten Sie keinen Beruf, in dem man richtig Geld verdient?«
    Stolzenburg ärgert der leicht ironische Tonfall, aber er ist ihm verpflichtet, hat ihm viel zu verdanken, und so will er auf den Spott nicht eingehen und schon gar nicht in der eigentlich einzig angemessenen und scharfen Form reagieren. Er zwingt sich zu einem Lachen: »Etwas mehr Geld hätte ich gern, allein schon, um das Finanzamt zufriedenzustellen. Aber es gab schon immer Arbeiten, die nicht oder schlecht bezahlt wurden und die dennoch wichtig waren. Und es gab immer Leute, die solche Arbeiten übernahmen. Zum Glück.«
    Gaede nickt mehrmals: »Zum Glück für die Menschheit, meinen Sie? Ich verstehe, Sie sprechen von Diogenes und Laotse oder von Jesus. Ja, dann allerdings, dann haben Sie recht und, damit verglichen, jage ich verzweifelt hinter falschen Zielen her. Ihre Arbeit ist also für die Menschheit unverzichtbar?«
    »Für mich, Herr Gaede, für mich ist sie unverzichtbar.«
    »Ja, dann müssen Sie damit leben, dass fünftausendsiebenhundertzweiundzwanzig Euro für Sie ein fast unüberwindbares Hindernis darstellen. Ich habe mit anderen Menschen zu tun, mit Leuten, die eine solche Summe für eine Flasche Wein ausgeben. Das habe ich höchst persönlich erlebt, Herr Stolzenburg. Ich fand das nicht besonders witzig, und der Wein schmeckte gut, aber es war halt trotzdem nur ein Wein, für den ich allenfalls fünfzig Euro gezahlt hätte. Ehrlich gesagt, ich verstehe Leute nicht, die eine solche Summe für eine Flasche Wein auf den Kopf hauen, aber ebenso wenig begreife ich Leute, die freiwillig ihr Leben so einrichten und organisieren, dass ein paar Tausend Euro für sie existenzbedrohend sind.«
    »Offenbar haben wir beide unterschiedliche Prioritäten gesetzt. Oder sie wurden uns gesetzt. Die Bewegungen der Börsennotierungen zu verfolgen, auf Anzeigetafeln mit Zahlen zu starren, mit Rohstoffen und fiktiven Werten zu spekulieren, das würde mich in die Depression stürzen. Ich stünde kurz vorm Selbstmord, wenn ich tagtäglich Zahlenreihen kontrollieren müsste. Ich vermute, für Sie stellen diese Zahlen so etwas dar wie die gregorianischen Choräle, wie die unverständliche lateinische Litanei der Kirche. Sie jonglieren mit Werten, von denen Sie nicht wissen, wie sie entstehen, wer sie festlegt und verändert oder manipuliert, was sie in der wirklichen Welt darstellen. Sie wissen nicht einmal, wie sie aussehen. Sie kaufen und verkaufen Zahlen,Ihr Leben ist eine einzige Kurvenfahrt, bestimmt vom täglichen Hoch und Runter der Notierungen.«
    »Kleinste Änderungen der Kurven bedeuten möglicherweise viel Geld.«
    »Ja, Sie produzieren Geld. Ich würde wie Ihre Cousine reagieren, Herr Gaede, ich hätte wie Marion diesen Job spätestens nach einer Woche hingeschmissen.«
    »Bewundernswert, wirklich.«
    Stolzenburg lächelt. Ein ganz klein wenig, sagt er sich, will ich ihm seinen faden Witz heimzahlen, auch wenn er mir geholfen hat.
    »Ersparen Sie mir Ihre Ironie, Herr Gaede. Sie produzieren nichts, Sie sind kein Dienstleister, Sie sind kein Entdecker, kein Forscher, nichts Innovatives ist in Ihrer gesamten Existenz. Allerdings verantworten Sie möglicherweise, nein, wahrscheinlich durch Ihre Bedenkenlosigkeit bei den finanziellen Transaktionen den Tod vieler Menschen. Sehen Sie, und ebendarum sind Sie für mich ein Rätsel und unbegreiflich.«
    Er lässt Gaede nicht aus den Augen, doch auch der scheint belustigt zu sein.
    »Aha, ein Mörder bin ich, ein Massenmörder möglicherweise.«
    »Wenn Sie Ihr Geld nur in umweltschonende Unternehmen und die Solartechnik anlegen, sind Sie das nicht, aber dort erzielt man vermutlich nicht das große Geld.«
    »Alle Achtung. Sie gehen viel weiter als Marion. Von ihr habe ich mir einiges

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