Weiskerns Nachlass
dreht sich um und geht zur Bar.
»Vergessen Sie nicht den Tee und den Wein«, ruft er ihr hinterher, dann wendet er sich an Henriette: »Schön, dass du da bist.«
»Was ist passiert? Was wollte die Kellnerin?«
Er sagt ihr, dass ein Mädchen aus Versehen ein Glas Wasser umgestoßen habe, und zwar so, dass das Wasser sich über seine Hose ergossen habe, dieses Mädchen mit ihren Freundinnen dann fluchtartig die Gaststätte verlassen habe, ohne ihre Rechnung zu bezahlen, und die Kellnerin offenbar in dem Glauben ließ, er werde sie begleichen. Er will Henriette nichts von dem Überfall und den wiederholten Attacken dieser Mädchenbande erzählen.
»Und darum sitze ich mit nasser Hose vor dir. Wie ein kleiner Junge.«
»Du solltest nach Hause fahren und dich umziehen.«
Er sagt, es sei nicht nötig, die Hose sei fast trocken, und berichtet, wie er auf der Toilette der Gaststätte die Hose unter den Händetrockner gehalten habe, in Unterhosen dagestanden und immer wieder auf den Knopf des Apparats gedrückt und gehofft habe, dass kein anderer Gast die Toilette aufsuchen werde, ihn sehen unddann die merkwürdigsten Vermutungen anstellen würde. Er erzählt witzig und mit Humor seine heikle Situation, und sie grinst, was ihn freut und erregt. Unvermittelt fragt sie ihn nochmals, ob er diese Mädchen nicht kennt, und er beteuert, sie seien ihm völlig unbekannt, sie müssten ihn verwechselt haben.
»Mit deinen Eltern ist alles in Ordnung? Wie war der Umzug? Sehr anstrengend?«
»Ja, es war wohl besser, dass du nicht mitgekommen bist. War so eine Schnapsidee von mir. Ich dachte an eine kleine Reise an die See, aber vom Wasser habe ich nichts gesehen, und meine Eltern hätten dich genervt. Aber die Reise an die See, die sollten wir nachholen, Henriette.«
»Bitte nichts überstürzen. Wir kennen uns doch kaum, und ich bin vorsichtig geworden. Das machen die Erfahrungen.«
Stolzenburg greift nach ihrer Hand, sie zieht sie nicht zurück, und beide sehen sich an und schweigen.
»Lassen wir es langsam angehen«, sagt sie dann, »wir sind beide nicht mehr achtzehn.«
Er nickt, und als sie ihm die Speisenkarte reicht und ihm sagt, sie lade ihn heute ein, nimmt er ihr Angebot an und entscheidet sich nach einem kurzen Blick für eine preiswerte Pasta. Sie fragt völlig überraschend nach seiner Tochter. Als er von Judiths Anruf erzählt, sagt sie: »Und ich hatte zwei Fehlgeburten, das war’s. Dann habe ich mich von diesem Traum verabschiedet, von dem Traum, ein Kind zu haben.«
»Wegen der Fehlgeburten?«
»Ja. Und ich träume noch heute von diesen beiden Kindern. Beide sind im Krankenhaus geblieben, beideFöten. Ich wage gar nicht darüber nachzudenken, was mit ihnen passiert ist. Wenn ich damals nicht so kaputt und verzweifelt gewesen wäre, ich hätte die toten Kinder mitgenommen, um sie zu beerdigen. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland erlaubt ist, aber ich war einmal in Japan, auf einem Friedhof der Ungeborenen. Dort werden die Fehlgeburten und die abgetriebenen Kinder beerdigt, das hat mir gefallen. Das sind richtige Gräber, und die Eltern besuchen sie und legen Gaben hin, Blumen, Puppen, Spielzeug. Sie haben einen Ort für ihre Trauer. Meine beiden Kinder sind vermutlich in einem Mülleimer gelandet. Ich habe nicht gewagt, danach zu fragen, weil ich Angst vor der Antwort hatte. Verstehst du das?«
»Natürlich.«
»Die Oberschwester, die ich damals fragte, wo mein Kind geblieben ist, hat irgendetwas von einer Beseitigungspflicht der Klinik gefaselt, da wurde mir so schlecht, dass ich nichts mehr sagen konnte und weggerannt bin. Beseitigungspflicht, das hat mich schockiert. Vielleicht träume ich nur deshalb von meinen beiden Kindern.«
»Ja, deutsche Amtssprache«, sagt er und streichelt mit einem Finger über ihre Hand.
»Ein Friedhof der Ungeborenen«, fährt er fort, »das klingt gut, das gefällt mir, das hat etwas von begriffenem Leben. Die Japaner haben eine Zen-Lehre von den Ungeborenen, sie stammt von einem japanischen Schüler des Chinesen Konfuzius. Sie verstehen Leben anders als wir. Es hat einen anderen Stellenwert, ist weniger individuell, hat den Riten zu folgen und ist dem Wechsel der Natur unterworfen. Es ist kostbar, aber wie alle Natureine Frucht der Jahre und Jahreszeiten, ein beständiges Vergehen und Werden. Es fehlt die Einzigartigkeit des Individuums, die unser Verständnis prägt und die das Sterben eines Menschen zur Katastrophe macht. Im Einklang leben, sich selbst in
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